Bachmannpreis 3.Tag - 2.Lesung

10:45 – Anne Richter (D, Jg 1973)

Geschwister

Ihr Text beginnt wie folgt:
„Kümmere dich um unseren Vater“, flüsterte Ruth, „ich wohne zu weit weg und kann es nicht tun.“
Sie stieß mit der Fußspitze einige Male gegen die Erde, als wollte sie etwas davon fortschippen. Unschlüssig, ob sie neben ihrem Bruder stehenbleiben sollte, betrachtete sie sein Gesicht im Profil, es wirkte wie das eines gutaussehenden, fremden Mannes, an dem ihr, hätte er gelächelt, vielleicht etwas Vertrautes aufgefallen wäre. Fred nickte mit abgewandtem Blick. Er schien gealtert in den vergangenen Jahren.
Es war ein sehr heller Tag mit beinahe sommerlichem Himmel, in der Ferne zeichneten sich dunkle Nadelbäume ab, Wälder, die im Winter einen märchenhaften Eindruck machten, jetzt im Frühling sah Ruth Spitzen dicht nebeneinander, kleine Pfeile gen Himmel. Unten, hinter der Umzäunung des Friedhofs, wuchsen Gräser und wilde Blumen, gelb, violett, hellrosa.
Die Gäste hatten die flache Trauerhalle inzwischen verlassen und versammelten sich in Grüppchen zu beiden Seiten des ungepflasterten Weges, der vom Halleneingang zum Friedhofstor führte.


Sofort nach diesem Texteinstieg denke ich an eine Unterhaltung. Ich höre weitere fünf Minuten zu und der allererste Eindruck bestätigt sich mir: Ein Text wie eine Unterhaltung mit einer Freundin, die man nach langer Zeit trifft und fast standardmäßig fragt: „Wie geht’s?“
„Ach wieder gut?“
„Wieder?“
„Mein Lieblingsonkel ist gestorben.“
Betroffen schweigt man, murmelt ein „das tut mir leid.“
Und während man es murmelt, beginnt die Freundin zu erzählen:
Von der Beerdigung, von den Erinnerungen, von den Momenten, die ihr in den Sinn kamen, als sie am Grab des Onkels stand.

Die Autorin hat eine sehr angenehme Lesestimme, setzt an den richtigen Stellen Pausen, liest nicht so monoton wie andere aus ihrer Altersgruppe bei diesem Bewerb.
Es macht Spaß ihr zuzuhören, ihr Text ist einer der wenigen Texte, die ich parallel nicht am Bildschirm mitlesen muss.

Ich lehne mich zurück und höre zu, während ich hin und wieder meinen Cappuccino, der zweite schon an diesem Morgen, umrühre, den Milchschaum Gedanken verloren mit dem Löffelabnehme und immer wieder am Tassenrand nippe.

Ich lasse sie erzählen und höre ruhig zu, denke das eine oder andere Mal: "Wie ähnlich doch alle diese Familiengeschichten sind, wie sich alles irgendwie ähnelt: Familienstreitigkeiten, Geschwisterhänseleien, Versöhnungsszenarien, Krankengeschichten, die wie ein Krebs weiterwuchern bis zum Tod. Am Grab des Verstorbenen trifft man sich im Verwandtenkreis, beim Trauerkaffee tauscht man sich aus, hört sich an, was die Verwandten zu erzählen haben, weil man selbst schon lange aus der trostlosen Gegend weg gezogen ist, wo sich zwischenzeitlich Fuchs und Hase gute Nacht sagen: „Die nahen Verwandten fanden sich vor einem der nebeneinander aufgereihten blassgelben Neubaublöcke des Ortes zusammen, verharrten eine Weile im vom Schnee befreiten Eingangsbereich und stiegen schließlich die Stufen zur vierten Etage hoch. Ruth betrachtete die kleine, ordentliche Dreizimmerwohnung, in der Luise und Uwe lebten, die Porzellanfiguren hinter den Glastüren der Schrankwand, andere, die auf dem Fernseher standen und das Staubwischen sicherlich mühsam machten, hingegen gab es eine glatte Ledercouch und einen schnörkellosen Holztisch und eine unmittelbar an das Wohnzimmer grenzende Küche ohne Tür. Ein Foto der Großmutter konnte Ruth nicht entdecken.
Die Trauergäste verteilten sich auf dem Sofa und am Tisch, Luise trug Kuchen auf, goss Kaffee ein, und während Ruth aß und trank, schaute sie hinab in das Tal, auf die schneetragenden Äste der Bäume und auf einen langgestreckten, quaderförmigen Bau mit dazugehörigen Schornsteinen, das verlassene Porzellanwerk. Die dichten Fensterreihen der Fabrik sahen unbeschädigt aus, nur der helle Verputz trug Graffitispuren, und Ruth fragte sich, wer in dieser beinahe jugendlosen Kleinstadt Wände besprühte.
Uwe und Luise hatten in dem Werk gearbeitet, wobei nur sie die Techniken – das Drehen, Gießen und Pressen, das Brennen und Glasieren – beherrscht hatte, weil Uwe in der Verwaltung tätig gewesen war.
Jemand klapperte mit seiner Kaffeetasse, es entstand ein klingender Ton von zerbrechlichem Material, ein Lebenszeichen von einem toten Ort. Ruth fuhr mit dem Zeigefinger die feine Zeichnung auf ihrem Teller nach, blaue Blüten, blass, schlicht und einander ähnlich. Auf der Tasse das gleiche Muster.
Sie hörte Uwe sagen, dass er krankgeschrieben sei und dass Luise nun seine Schicht in der neuen Firma übernehmen müsse. Er saß mit dem Rücken zur Küche, in der Luise hantierte, sein Haar war hellgrau, die Haut an den Händen rissig, und sein Gesicht hatte einen kämpferischen Ausdruck.
Die Großmutter sei stets vernünftig gewesen, selbst als man ihr vorgeschlagen habe, ins Altersheim umzuziehen. Vernünftig und stark – dennoch sei er froh, dass ihr niemand von seinem Darmkrebs erzählt habe.


Ein Text, der im Rahmen einer Veranstaltung, einer Lesung gut anzuhören ist, aber das Buch kaufen?
Das würde ich nicht. Es gibt auch nur kurzen Applaus.
Ob es dem Publikum ähnlich wie mir ging?

Dann folgt die Jurorenkritik.
Claude Sulzer bringt meine Empfindung zum Text eigentlich am besten auf den Punkt, als er sagt: „Es ist die klassische Ausgangslage, die gibt es öfter in der Literatur der letzten Jahrzehnte: Eine Beerdigung, man kommt zurück in die Heimat….“ Der Text sei gut gemacht, aber alles ist ihm „etwas brav, man erfährt stilistisch nichts Neues.“
Daniela Strigl: „Damit die Geschichte an Fahrt gewinnt, hätte man etwas mehr aus dem Begräbnis machen müssen, so handelt es von der Muffigkeit dieser Familiengeschichte und die diffundiert in den Text hinein. Eine dünnflüssige, leicht blutende Familie, so dünnflüssig wie die Geschichte.“
Hildegard E. Keller bricht eine Lanze für den Text. Die Autorin erzähle in Pastelltönen, emotionslos, aber nicht herzlos und äußerst genau. Die Geschichte sei äußerst klar strukturiert: Es geht um zwei Geschwisterpaare. Die DDR sei hinter Milchglas, die Geschichte könnte daher auch anderswo spielen. Ihr gefällt es, wie unspektakulär eine alltägliche Situation und eine menschliche Grunderfahrung erzählt wird.
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