Augenzeugenbericht über Stuttgart 21-Demo

"Mappus weg! Mappus weg!"
skandierten Zehntausende, als ich mich gestern mit Freunden in die Massendemonstration gegen Stuttgart 21 einreihte, die am Hauptbahnhof startete. Der Zug der Zehntausender wälzte sich unter dem Motto "Sofort Baustopp – dann Gespräche" durch Stuttgart-Mitte: Dreiundsechzigtausend waren es nach Schätzungen der Polizei, nach Angaben der S21-Gegner über Hunderttausend, manche sprechen sogar von einhundertfünfzigtausend Demonstranten.

Es war ein völlig neues Stadt-Erlebnis, eingekreist von Menschenmassen, auf der zwei- (an manchen Stellen auch drei-)spurigen Theodor-Heuss-Straße, Stuttgarts Partymeile, entlang zu gehen. Über mir der blaue Kaiserhimmel, linker Hand moderne fünf- bis sechsgeschossige Versicherungs- und Bankengebäude, alle in den letzten fünf bis sechs Jahren entstanden. Rechts die Verwaltungsgebäude aus den Fünfziger Jahren, in denen Wirtschaftsministerium und Sozialgericht untergebracht, ein altes Gewerkschaftsgebäude, dazwischen ein paar wenige Läden, sowie die Clubs, in denen nachts die Musik wummert. Auf Höhe S-Bahn-Station Stadtmitte rechter Hand eine Baulücke, an der die Bauarbeiten zu einem neuen hypermodernen Mehrstöcker beginnen.

"Oben bleiben – oben bleiben! Oben bleiben – oben bleiben! Oben bleiben – oben bleiben!" schrien die Menschen rings um mich herum: Die meisten, ich würde schätzen, über 65 Jahre alt, dazwischen auch ein paar Mittelalte (also 40plus), eine Handvoll Jüngerer (um die dreißig), ein Grüppchen Jugendlicher. In Jeans und Leinenhose, In T-Shirt oder im Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, in Sakko oder Blazer, mit Windblouson oder offener Freizeitjacke liefen sie mit.

"Das gut situierte Bürgertum und die Akademiker gehen auf die Straße", dachte ich mir einige Male beim stillen Dahinlaufen. Viele hatten bunte Parkschützer-Buttons angesteckt oder durchgestrichene Stuttgart-21-Aufkleber an die Jacken an-ge-bäppt. Manche hielten selbst gebastelte Protestschilder hoch oder trugen mit anderen Transparente vor sich her. Darauf Sprüche wie "Sieht so die repräsentative Demokratie aus?" oder "Demokratie im Würgegriff".

Wenn ich in die Gesichter sah, soweit das beim Geradeaus Laufen möglich ist, blickte ich in ernste Mienen. Mir wurde eines klar: Hier sind keine Event-Hopper unterwegs, sondern Bürgerinnen und Bürger, die auch in Ihrer Straße, unter Ihnen, neben Ihnen oder auf der anderen Straßenseite wohnen [könnten]. Leute, die am Montagmorgen zwischen sieben und acht Uhr, hier auf der Theodor-Heuss wieder unterwegs sein werden, dann im Businessanzug oder im Kostüm im Auto sitzend und im Stau stehend.

"Lü-gen-pack! Lü-gen-pack! Lü-gen-pack! Lü-gen-pack! Lü-gen-pack! Lü-gen-pack! Lü-gen-pack! Lü-gen-pack! Lü-gen-pack! Lü-gen-pack! Lü-gen-pack! Lü-gen-pack! Lü-gen-pack! Lü-gen-pack!" schallt es durch die Megaphone. Irgendwo weiter vorne, wird der Takt und der Sprechtext vorgegeben:
Links-rechts-links. "Lü-gen-pack!"
Rechts-Links-Rechts. "Lü-gen-pack!"
Links-rechts-links. "Lü-gen-pack!"
Rechts-Links-Rechts. "Lü-gen-pack!"
Im Marschschritt stimmen um mich herum alle in den Chor ein. Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich. Mir ist unwohl. Je länger sich die Theo hinzieht, um so aggressiver, um so emotionaler wird skandiert. Ich will nicht in diesen Sprechgesang einstimmen. Ich habe ein eigenes Hirn, das eingeschaltet ist. Am liebsten würde ich dagegen anschreien. Aber eine innere Stimme hält mich davon ab! Ich möchte dagegen anschreien, weil ich es nicht mag, wenn Menschen einfach wie die Papageien irgendetwas nachplappern, was ein anderer ihnen vor-sagt.

"A L L M A C H T S F A N T A S I E N !"

Ein Zitat, das am Freitagabend in den Heute-Nachrichten der Ulmer Oberbürgermeister verwendete, als Sammelbegriff für einen Teil der Stuttgart 21-Gegner. "Allmachtsfantasien". Das Zitat fällt mir bei diesem Lügenpack-Marsch ein. Ein beklemmendes Gefühl beschleicht mich. Eine Erinnerung an Zeiten, die lange, lange zurück liegen. Ich denke an einige Schlagworte: An den "Oktober vor 85 Jahren", krame in den Gehirnwindungen meines Geschichtsbewußtseins "Vormärz" fällt mir ein; ich will beides zuhause nachschlagen, im Geschichtslexikon, was das damals noch mal war.

Ein beklemmendes Gefühl beschleicht mich aber auch, weil die Bilder, die ich, glücklicherweise nur aus den Medien kenne, von vor einer Woche in mir aufsteigen, als der Wasserwerfer in friedliche Menschen im Schlossgarten spritzte. Ich erinnere mich an die Diskussion mit den Freunden, deren Tochter live alles mit ansehen musste.
Mir wird schlecht.
Was wäre, wenn….

Was wäre, wenn...
jetzt hier ein paar ausrasten… S21-Gegner und S21-Befürworter sich in die Wolle kriegen und rumprügeln würden?

Was wäre, wenn...
da vorne an der Straßenkreuzung des Rotebühlplatzes ein paar Polizisten ausrasten und doch wieder mit Wasserwerfern in die friedlich demonstrierende Menge hielten?

Was wäre, wenn...
sich jetzt hier ein paar (terroristische) Fanatiker unters Volk mischten und Handgranaten zündeten, um sich als Selbstmordattentäter in die Luft zu sprengen?

Meine Knie werden weich wie Pudding!
Von hinten drängen ein paar Menschen dichter an uns, mich und die Freunde, heran. Ich mag das nicht!
Ich will nicht so dicht gedrängt laufen.
Auch S., eine Freundin, ist etwas bleicher um die Nase geworden.

Ich war schon vor dreißig Jahren auf Demos!
Damals war es anders!
Damals, war es mehr wie Volksfeststimmung!
Damals war ich jung, ich diskutierte mit anderen Gleichgesinnten. Wir ereiferten uns, aber wir ließen auch die Meinung der anderen gelten!
Tagsüber diskutierten wir, abends saßen wir gemeinsam beim Bier in der Kneipe!

HEUTE? Heute ist irgendetwas anders!

WAS? Ich weiß es noch nicht recht?

Vielleicht dieses beklemmende Gefühl!? Das nicht weggeht.

Auch jetzt, nach mehr als eintägiger Distanz zur gestrigen Demo, geht dieses Gefühl nicht weg, wenn ich an gestern denke...

Immer wieder kommt mir der Satz des Redners in den Sinn, der gestern auf der Kundgebung sprach. Es war ein ehemaliger Mitarbeiter der Deutschen Bahn, der die Menge der Demonstranten aufforderte, im friedlichen Protest durchzuhalten. Er glaube, dass wenn dieser friedliche Protest noch Wochen so weitergeht, dass dann die Bahn ihr Projekt aufgeben werde.

Ich weiß nicht recht....
...wieder gemischte Gefühle, wenn ich an gestern denke...

Hinterher, abends, als wir, die Freunde und ich noch bis tief in die Nacht zusammensitzen, beherrscht noch lange das Demo-Erlebnis unsere Gespräche. Bemerkenswert fand ich, dass es der Freundin auch so ging, mit den beklemmenden Gefühlen, als die Sprechchöre sich emotionalisierten. Bemerkenswert fanden wir auch die Menschenmasse, die sich, wir mittenmang, durch die City walzte. Enttäuscht waren wir, dass im Fernsehen nichts, aber auch gar nichts über diese Riesendemo zu sehen war. Stattdessen die Menschenkette aus München gegen Atomkraft. Darüber regten wir uns richtig auf, denn das ist keine objektive Berichterstattung.

Nachtrag:
Ich habe lange überlegt, ob ich meinen heutigen Eintrag mit Bildern von der Demo durchmischen soll. Ich habe mich dagegen entschieden! Weil auf den Fotos einzelne Menschen sehr gut zu erkennen wären. Demokratie heißt für mich auch, Schutz der eigenen Person, des Persönlichkeitsrechts. Daher gibt es heute keine Fotos!

Hier und Hier gibt es übrigens Kurzberichte der regionalen Zeitungen inklusive Fotostrecken, wer also Bilder für die bessere Vorstellungskraft braucht, klicke auf diese beiden rot markierten Worte und möge dort gucken.
2174 mal gelesen
Laura (Gast) - 10. Okt, 16:47

Habe eben Ihr Blog entdeckt. Ich war bei der Inliner-Demo dabei. Genauso wars. Haben Sie auch die Inliner gesehen?

Teresa HzW - 10. Okt, 20:59

Ich lief mitten im Pulk, bin dann jedoch mit den Freunden am Rotebühlplatz raus. Uns waren es zu viele Menschen. Quer durch die Fußgängerzone sind wir dann zurück in den Schlossgarten, zur Kundgebung. Es freut mich, dass Ihnen mein Bericht gefiel.
Matthew (Gast) - 10. Okt, 17:58

Hi, I´m British. Mich erinnert Ihre Bericht an der Protest bei uns. 40 Jahre ist das zurück. Damals viele Künstler protestierten. Sie waren against the establishment. Take a look at http://www.wsws.org/articles/2010/apr2010/redg-a12.shtml
It´s all happening here in Stuttgart. Upon my Sam!

Teresa HzW - 10. Okt, 21:03

Thank you, dear Matthew. Den Link sehe ich mir morgen an.

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