Bachmannpreis 1.Tag - 3.Lesung

11:55 Uhr: Daniel Wisser (A, Jg 1971)

Standby
Von einem der auszog, andere Autoren nachzuahmen?


Lässt das Videoporträt, das nur des Autors Kopf zeigt, ahnen, was nun folgt? Etwa ein sehr eigenwilliger, gar schräger Text?

Etwas voreingenommen, ich gestehe es, gehe ich auf Standby, wie auch die Überschrift des Textes lautet:
Die Stirn wird betastet. Es wird ein Wort gedacht: Augenkopfschmerz. So wird dieser Kopfschmerz von ihm bezeichnet. Sieben oder acht verschiedene Arten von Kopfschmerzen können unterschieden werden. Von der Frau wird behauptet, er sei dauernd krank, ständig erkältet. Er müsse die Stirnhöhlen untersuchen lassen. Aber Augenkopfschmerz und leichte Übelkeit wurden nicht von einem beginnenden grippalen Infekt ausgelöst.
Samstag früh. An Samstagen wird nicht gearbeitet. Und auch morgen wird er nicht ins Büro gehen können. Samstage werden von ihm nicht geliebt und auch Sonntage nicht. Er freut sich nicht auf das Wochenende.
Auf dem Nachttisch wird neben dem Bücherstoß, neben dem Wasserglas, aus dem die ganze Nacht kein einziger Schluck Wasser getrunken wurde, und neben den Schmerztabletten das Mobiltelefon gefunden. Das Display wird betrachtet: Keine entgangenen Anrufe. Das Mobiltelefon muss immer bereitliegen, da er sich am Wochenende im Standby-Dienst befindet. Reaktionszeit maximal 20 Minuten. Antwortzeit maximal 60 Minuten.
Vielleicht sollte gleich jetzt eine Schmerztablette genommen werden.


Ohje, sag nur, schon wieder ein Text über Tabletten, Sucht, Barbiturate, Krankheit, Tod… der Vater im Heim, der vor sich hin vegetiert?

Weiterer Text-Auszug
Dieser Samstag wird überlebt werden müssen. Es sollte aufgestanden werden. Von zehn bis null herunterzählen und bei null aufstehen. Bei null wird der Oberkörper aufgerichtet und die Beine werden aus dem Bett gehoben. Zehn. Die Befehle für die Bewegung der Beine wurden nicht ausgeführt. Neun. Sollte aufgestanden werden, so muss zuerst die Bettdecke vom Körper gezogen werden. Acht. Für Donnerstagabend ist mit Eva ein gemeinsamer Spaziergang vereinbart worden. Sicherlich wird das Treffen aber von Eva in letzter Minute abgesagt werden. Eva hat früher mit ihm in der Abteilung gearbeitet. Vor vier Jahren wurde Eva von ihm eingeschult. Sechs. Während der Einschulung war von beiden viel gelacht worden, gelacht über längst vergessen Geglaubtes wie das Vierteltelefon, die Winter Games auf dem C64 oder über Malen nach Zahlen. Zählen nach Zahlen.
Die letzte Zahl wurde beim Denken an Eva vergessen. Das Zählen von zehn bis null muss wiederholt werden. Ein Anwachsen, eine Intensivierung des Augenkopfschmerzes wird festgestellt. Das Bett kann im Moment keinesfalls verlassen werden. Kein Körperteil der Frau kann neben ihm ausgemacht werden. Sie schläft wahrscheinlich vor laufendem Fernsehapparat auf der Couch im Wohnzimmer.


12:10 Uhr Mein Gott, was für ein leiernder Vortrag. Erneut so ein langatmiger Text. Gähn.

Oder habe ich heute einen schlechten Tag, weil ich diese Leier-Arien nicht mag?
Sätze wie „Er konnte Evas Blutgefäße deutlich erkennen. Manchmal konnte er durch die Haut bis zu ihrem Herzen sehen.“ mag ich heute jedenfalls nicht hören, nicht lesen.

Was ist denn dieses Jahr mit den Autoren los?
Der zweite binnen zwei Stunden, bei dem Toiletten und Fäkalien im Vordergrund der Beschreibung stehen: „Die Toilette wird von ihm immer verriegelt, denn er will nicht überrascht werden. Am liebsten wäre es ihm, wenn die Frau nicht in der Wohnung anwesend ist, während er das WC benutzt. Vor zwei Jahren wurde das erste Mal ein unangenehmer Geruch am eigenen Körper festgestellt.“

Naja, die Sprache, die Schreibe ist jedenfalls besser wie beim ersten Autor heute Morgen. Wenigstens kann ich dem zuhören.

12:16 Uhr Schon wieder die ellenlange Beschreibung von alltäglichen Dingen – noch dazu in schlechtem Stil, hier ein Beispiel:
Zu Hause wurde alleine auf der Couch gesessen und der Fernsehapparat angestarrt, ohne einzuschalten. Der Wodka wurde pur getrunken, da er für das Zubereiten eines Martini bereits zu bequem war. Vor der Tür wurde eine Minute lang in einer Handtasche nach einem Schlüssel gekramt. Die Tür wurde aufgesperrt. Von der Frau wurde die Handtasche im Vorzimmer fallen gelassen und sofort das Badezimmer betreten. Dort wurde lange geduscht, die Waschmaschine eingeschaltet und dann im Bademantel das Wohnzimmer betreten. Meist wird von der Frau zu viel Waschmittel eingefüllt, das dann vorzeitig durch den Saugheber in den Einspülkasten gelangt. Dadurch wird eine starke Schaumbildung in der Wäschetrommel ausgelöst. Immer wieder wird die Frau von ihm aufgefordert, die Markierung des Waschmittelbehälters zu beachten. Er wurde gefragt, ob er aus gewesen sei. Er antwortete, dass er nicht im Kinogewesen sei. Warum eine Krawatte im Vorzimmer liegen würde. Schweigen. Der Fernsehapparat wurde eingeschaltet.

12:23 Uhr – jetzt verhaspelt sich der Autor beim Vor-Lesen, entschuldigt sich und liest den Satz nochmals.

Also nein, so nicht! Diese passiven Satzkonstruktionen nerven mich. Mir sind die Füße eingeschlafen. So läuft kein guter Text. Daher erhebe ich mich aus meiner Computer-Schreib-und TV-Guck-Starre. Ich gehe ein paar Schritte. Auf die Terrasse hinaus. Drinnen vor dem Fernseher versäume ich nichts. Die monoton lesende, mich einschläfernde Stimme des Autors verfolgt mich bis hinaus in den Garten.

12:26h – Diese Lesung ist zu Ende, Gott sei Dank. Ich schnell zurück… zur Kritik:

Hubert Winkels bezeichnet den Text als „satirisch überzeichnetes Porträt eines zwangsneurotischen Kleinbürgers“. Das Passiv, das als Form für den Text gewählt werde, passe zum Neurotiker und werde mit einiger Konsequenz durchgespielt.
Burkhard Spinnen fragt sich: „Die ganze Sache ins Passiv zu setzen – was wirft das ab?“ Er wirft die Frage auf, was dieses „grammatikalische Bewusstsein“ für den Text bedeutet? Denn für den Vortrag habe die Passivform lähmende Wirkung.

Jawoll. Vielen Dank, Herr Vorsitzender für diese deutlichen Worte. Ich bin das lebende Beispiel für diese Wirkung, die sich wie Blei über den Körper legt.

Dem Juryvorsitzenden geht es noch um die Klärung der Frage, was dieser Text „ästhetisch abwirft? Was sagt er über die Möglichkeiten?“
Ist es nur „schlechte Stimmung“ und „schlechter Stil“? Nach längerer Distanz gelesen, so Spinnen, entfalte der Text „etwas maschinenmäßiges“. Schwer verständlich seien für ihn die „die falschen Duden-Konjunktive“ gewesen, die ihn „beim Lesen rausgehauen“ haben. Dabei hätte der „Konjunktiv-Eins im Deutschen Potenzen, die man durchaus wecken könnte. Aber das ist hier nicht gelungen. Ein Text mit nur einem Ausgang, in eine einzige Deutungsrichtung, ohne dass eine Deutung entsteht“ -das störte den Vorsitzenden der Jury.

Claude Sulzer meinte: Die Form des Passiv erlaube dem Autor, Dinge über die Person zu sagen, die er sonst nicht sagen könnte, das Interessante an dem Text sei, dass man sehr über die Person spekuliert und mehr über sie wissen wolle.

Meike Feßmann dagegen: „Das Passiv ist nichts anderes als ein Vorwand für Prosa von erschütternder Schlichtheit, schlichter geht es nicht mehr.“

Mehrfach fallen innerhalb der Jurykritik auch Hinweise, der Text ahme andere Autoren nach wie etwa Wilhelm Genazino.
Ich selbst denke an die Misanthropie der Figuren eines Thomas Bernhard, dem dieser Kandidatentext, geschweige denn sein Protagonist, nicht im mindesten das Wasser reichen kann.

Also Daumen nach unten für den ersten Österreicher in diesem Bewerb!
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