Bachmannpreis 2.Tag - 1.Lesung

10:20 Linus Reichlin (D, Jg 1957)

Kopfkino am frühen Vormittag
Weltgegend
Ein Text, eine Lesung, eine Diskussion, die einiges auslöst…
Erste Kapitel eines Romans

Der Einstieg anschaulich, dicht. Ich bekomme Gänsehaut. Eine schreckliche Ahnung beschleicht mich. Ich spüre nach wenigen Sätzen: Hier schreibt einer, der sein Handwerk versteht und lehne mich im Wohnzimmersessel zurück:
In einem Dorf mit einem lateinisch klingenden Namen schoss Martens auf zwei Männer und erkannte im selben Augenblick, dass er sich geirrt hatte. Die Frau fiel in den Staub, ihre Arme bewegten sich unnatürlich, Martens schloss die Augen. Ich bin Arzt, dachte er. Ich bin Arzt. Rein und fromm werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren. Rein und fromm. Das war der fünfte Paragraph des hippokratischen Eides, Martens versuchte sich an den ersten zu erinnern. Wie lautete der erste? Wer sich an den fünften erinnern konnte, für den durfte doch der erste keine Schwierigkeit sein. "Ich schwöre", murmelte Martens, "und rufe Asklepios und Hygeia … ich rufe Apollon, den Arzt und Asklepios und Hygeia und Panakeia und alle Götter und Göttinnen zu Zeugen an." Er war Arzt und er war bewaffnet, weil die Anderen ein Kopfgeld auf ausländische Ärzte ausgesetzt hatten. Und er war ein guter Schütze, aber als Arzt hätte er das gar nicht sein dürfen, jetzt rächte es sich. Und dann, dachte er, und dann, wie geht der Eid weiter, zweiter Paragraph? Die Lebenden ruf' ich, die Toten beklag' ich, die Blitze brech' ich. Das passte nicht dazu, aber das hatte ihm immer gut gefallen, das Motto aus Schillers Glocke. Mal sehen, ob ich das noch auf lateinisch hinkriege, dachte er. Vivos voco, mortuis plango. Fulgaro frango. Hieß es mortuis oder mortuos? Es war schwierig, das zu entscheiden, denn sein Kopf dröhnte noch von der Bombe, die die Anderen vorhin ferngezündet hatten.

10:29 h - Worum geht es in diesem Text? Einen Arzt im Auslands-Kriseneinsatz? In Afghanistan?
Immer wieder zeichnet Reichlin ausdrucksstarke Sprachbilder, allerdings stolpere ich hier:
Er blickte wieder hin, und die Sandale lag stur an ihrem Ort.
Kann eine Sandale stur liegen?

Wundervoll liest der Autor, mir geht das Herz auf. Bei dieser Intonation, bei der Betonung einzelner Worte und ganzer Sätze. Dieser Text ist Musik in meinen Ohren. Wunderbar – das Timbre seiner Bassstimme. Linus Reichlin unterstreicht sie mit Gesten an jeweils passenden Stellen der Lesung.

10:34 Uhr – Ja, dieser Autor streichelt meine von gestern geschundene Leserinnen-Seele:
Nein, seine Seele, von der Explosionswucht aus dem Körper förmlich rausdrückt, war wieder in ihre Heimat zurückgekehrt, und im wiedererworbenen Zusammenspiel von Empfindung und Verstand

Endlich. Keine Monologe oder seichtes Geplauder wie gestern. Endlich ein richtiger Text. Wie in einem guten Roman. Richtige Personen beinahe zum Anfassen nah: Zwei Männern, die miteinander reden.

Selbst dem Publikum in Klagenfurt entlocken sie ein Schmunzeln, an Stellen wie: "Das ist keine gute Idee. Loeck ist in Nina verliebt. Selbst wenn du eine Kugel im Kopf hättest würde er sagen: Alles in Ordnung, mein Freund. Halten Sie nur immer schön den Finger auf das Loch, dann werden Sie hundert Jahre alt."
"Alle sind in Nina verliebt. Ich kann's mir nicht aussuchen, Tim."
"Dann lass dich von mir untersuchen! Ich bin nicht in Nina verliebt. Meine Liebe gilt allein dem Kampf gegen den Terrorismus. Und ich habe zwei Semester Medizin studiert."
"Ja. Und fünfzig Semester Germanistik."


10:44 Uhr - Obwohl es um ein hochpolitisches, schwieriges und tiefernstes Thema von menschlicher Brisanz geht: Der Auslandseinsatz in einem Kriegsgebiet. Der Text hat eine Leichtigkeit, die einen umhaut. Mich packt, mitreißt – vielleicht gerade wegen der Aktualität des Themas? Mir stockt der Atem, ich spüre den Stress, dem der Protagonist, der Arzt Martens, in folgender Szene ausgesetzt ist, als er nicht weiß, wie eine Situation einzuschätzen ist, die eigentlich wie ein Unfall aussieht, jedoch auch eine gestellte Szenerie eines Selbstmörder-Anschlags sein könnte:
"Es ist alles in Ordnung", sagte Khalili, er half Martens auf die Beine.
"Tut mir leid", sagte Martens, ihm lief Rotz aus der Nase. "Ich konnte es nicht kontrollieren."
"Es ist nur ein umgestürzter Eselskarren. Komm, schau es dir an. Da ist keine Bombe. Ich möchte, dass du dich davon überzeugst. Es ist nur ein Schuhhändler, zwei junge Kerle sind ihm in die Seite gefahren. Jetzt liegen überall Schuhe rum, schau dir das an!"
Khalili führte Martens zum Geschehen, der Eselkarren lag auf der Seite, das eine Rad drehte sich noch, die Straße war übersät mit Sandalen. Zwei Männer in weißen westlichen Hosen stritten sich mit dem Händler, Niehoff, das Gewehr im Anschlag winkte Khalili zu sich: "Die sollen die Straße freimachen. Sagen Sie ihnen das, aber freundlich!"
Martens hatte ein Pfeifen im Ohr, vor seinen Augen flimmerten weiße, durchsichtige Flocken, sie flimmerten vor den Sandalen, mit denen der Boden bedeckt war, paarweise zusammengebundene Sandalen. Er blickte über all die Sandalen, und in jeder einzelnen steckte das Bild jener Frau, die in den Staub stürzte, die Wölklein, die aufstiegen und eine Weile über dem Körper der Frau schwebten. Die Sandalen brachten auch Töne hervor. Martens hörte die andere Frau, sie rief ihm etwas zu, er konnte sich jetzt an ein Wort erinnern, sie hatte es mehrmals wiederholt.
Khuuree, das Wort drehte sich in seinem Kopf, immer schneller, Khuuree! Khalili verhandelte mit den Männern, die in den Unfall verwickelt waren, aber Martens konnte nicht warten, er zog Khalili von den anderen weg, er musste wissen, ob es noch Hoffnung gab.
"Khuuree", sagte Martens. "Ist das ein Wort? Heißt das etwas?"
"Wie kommst du denn jetzt darauf? Du bist übrigens weiß wie ein Laken."
"Heißt es etwas?"
"Du sprichst es falsch aus. Man sagt: Khooree. Das heißt Schwester. Warum?"
"Nichts", sagte Martens. "Gar nichts." Er schwankte zum Dingo, setzte sich zu Petersen und Felder, einen Moment lang hatte er das Gefühl, nur aus seinem Kopf zu bestehen, er hatte den Zugang zu seinem Körper verloren. Seine ganze Energie konzentrierte sich zwischen den Schläfen, wo das Wort pochte, Khooree, Khooree. Man konnte sich kein Wort einbilden, das man nicht kannte. Ich habe das Wort gehört, dachte er. Wenn ich es nicht gehört hätte, würde ich es nicht kennen. Ich habe es gehört. Und wenn es das Wort gab, gab es die Frau, und wenn es die Frau gab, gab es die Verwundete.
"Das ist meine Schwester!", hatte die Frau ihm zugerufen. "Meine Schwester!"


Was für ein Cliffhanger!
Toll! Ich will unbedingt wissen, wie es weitergeht.
Was ist mit der Schwester passiert?
Doch der Autor schwenkt zu einem anderen Kapitel seines Romanauszugs. Ich kann nicht weiter trauern, denn gleich nimmt mich ein neuer wundervoller Satz ein: „Die Liebe steckte bei ihr in den Händen.“ Ein Satz, der einem wie Eis auf der Zunge zergeht.

10:44 Uhr - Was für ein Text! Wie ein Film.
Der Autor liest und seine Sätze spulen sich vor meinem geistigen Auge ab. Ich sehe eine weiße Großbild-Leinwand vor mir, auf der sonst Antikriegsfilme wie Apokalypse now in Dolby Digital laufen: Die Worte, die Sätze der Protagonisten spulen sich auch hier ab wie die Bilder eines Films. Schnitt - Szene – Schnitt – Szene. Ich will das Kissen vors Gesicht reißen, weil ich keine Bombenexplosion hören, nicht Blut spritzen sehen möchte. Ich atme auf, der Autor verschont mich, die Leserin. Das Männerduo seines Textes singt nur das Lummerlandlied. Gänsehaut. Mich fröstelts:
Er musste sich jetzt einfach hinsetzen, auf das Mäuerchen vor dem Café Lummerland, Martens mochte diesen Namen. Die ersten, die hierhergekommen waren, hatten das Lager Lummerland genannt und abends das Lummerlandlied gesungen: Eine Insel mit zwei Bergen, und im tiefen, weiten Meer … Damals waren die Anderen noch nahe genug an Lummerland rangekommen, um eine Rakete ins Café zu schießen, aber sie war nicht explodiert, die Enttäuschung der Anderen lag jetzt noch in der Luft.
"Aber nur auf eine Zigarette", sagte Khalili. Er setzte sich neben Martens. "Und dann begleite ich dich ins Lazarett."

Dieser Wechsel – dieses dichte Beieinanderliegen von Entsetzen und banaler Alltäglichkeit.

Schnitt. Nächste Szene. Jurorenkritik.
Meike Feßmann: „Eine spannende Geschichte mit starken Figuren.“ Der Text veranschauliche, was diese neuen Kriege sind: „ Der Soldat ist bedroht, aber er darf nicht töten. Das wird hier gut dargestellt.“
Hubert Winkels meint, es gehöre Mut dazu, ein Thema großer Aktualität, von politischer, militärischer, menschlicher Brisanz aufzugreifen: „Ein Akt, der Mut erfordert.“ Die verlorene Seele, die Psyche vor Ort zu schildern, hätte etwas von einer griechischen Tragödie.
Claude Sulzer urteilt: Das Setting sei „vollkommen klar“. Es wird der Zynismus beschrieben, wie dort [Anmerkung: an einem solchen Kriegsort] miteinander umgegangen wird.
Ernst Jandl: „Das ästhetische Mittel ist das der Kolportage. Der Stil der Geschichte nimmt alles auf, was man in Kolportageromanen finden würde. Alles ist deutlich benannt: z.B. die Abenteuerromantik. Darüber steht eine Moral, über die man nicht streiten kann.“
Daniela Striegl fragt sich: „Was ist das Neue an dem Text, weil wir wollen ja immer das Neue [Anmerkung: beim Bachmannpreis].“ Es schwebe bei diesem Text nichts zwischen den Zeilen. Man werde zu sehr an der Hand genommen. Sie vergleicht den Text mit einem ähnlichen von Hemmingway, sieht aber im Vergleich dazu keine Weiterentwicklung.
Burkhard Spinnen hält dagegen: „Die Art und Weise, wie der Autor es macht, ist ein Ausdruck von Souveränität. Es sind keine Leerstellen im Text.“ Wie der Autor hier Schritt für Schritt, Überlegung für Überlegung, Satz für Satz seinen Text baut, versetze uns in diesen Zustand, gleichsam wie ein Tatort im Fernsehen gebaut wird.“ [Das kann ich absolut bestätigen, wobei ich eher Apokalypse now vor mir sah und keinen Tatort mit Kommissarin Odenthal oder Wachtl und Veithuber]
Hildegard E. Keller meint: „Wir beobachten, wie jemand einen Schutzwall gegen die eigene Schuld aufbaut und wieder nieder reißt.“ Sie sieht in den beiden Personen sogar einen Typus von Männerduo ähnlich wie bei Don Quijote.

Eine Lesung, die endlich mal eine tolle würdige literarische Diskussion auslöste, wie ich sie gestern, am erste Tag des Bewerbs vermisste.
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