Bachmannpreis 2.Tag - 3.Lesung

12:10: Uhr Julya Rabinowich (A, Jg 1970)

Erdfresserin
Eine Text-Überschrift, die aufhorchen lässt...


Aller guten Dinge sind drei, sagt man, daher wünsche ich inständig, dass die Serie dieser guten Texte, an diesem zweiten Wettbewerbstag nicht abreißen….

„Wenn ich glücklich bin, schreibe ich nicht“, sagt Julya Rabinowich im Videoporträt. Sie mag keine Drogensüchtigenliteratur, mag keine Migrantenliteratur, keine Frauenliteratur. „Wozu das alles? Es geht einfach um den Text“. Wie wahr, denke ich und, wie sympathisch mir diese Frau auch ist….

Ich bin hellwach, kein bisschen müde, obwohl seit zwei Stunden in voller Anspannung, hoch konzentriert höre ich zu, als sie zu lesen beginnt:
In Leos Wohnung ist es heiß, nicht sommerlich heiß, sondern wüstenheiß, Leo und ich brüten beduinenhaft in Leintücher gewickelt in der stehenden, alles zukleisternden Hitze. Leos Wasser im Glas von gleicher Wärme wie die Feuchtigkeit in unseren Gesichtern. Das Leintuch wirft Falten um meinen Oberkörper und meine Schenkel, verläuft in Hügeln in Richtung Bettende. Im Halbdunkel des frühen Morgens wirken sie wie eine Wüstenlandschaft, eine weiße Düne, noch eine, viele, in unregelmäßigen Reihen.
Der Mond sinkt hinter die Wölbungen der Erde, der Himmel ist noch kaum vom Horizont zu unterscheiden, ein etwas helleres Blau mit dem Versprechen noch sengenderer Hitze. Irgendwo heult ein Tier, langgezogen und heiser.


Wird hier ein Mord geschildert?
Ich will Leos dampfende Haut von mir abziehen, bevor er mich zukleistert, meine Poren verstopft, bevor mein Geruch so abstoßend wird wie seiner, der immer gegenwärtig ist, in seinem Schweiß, in seinem Atem, in seiner Berührung, mit der er überwuchern will, an mir anwachsen, durch mich hindurch gesund werden an meiner statt.
Und einige Zeilen weiter
Ich schleiche ins Bad, schiebe mein Gesicht auf der Spiegelfläche zur Seite, ich will mich jetzt nicht sehen, weder mich noch Leo will ich sehen. Schütte kaltes Wasser über den Nacken, hole mir eine Kopfschmerztablette aus dem Schminktäschchen, das schon Leos Rasierwässerchen verdrängt hat, die er nicht mehr verwendet. Schließe die Kästchentür. Hänge den ganzen Kopf ins Becken und drehe den Hahn auf. Meine Haare beginnen sich in der Feuchtigkeit zu kräuseln, mein Gesicht erscheint hinterhältig im Halbdunkel wie das der Gorgo auf Perseus Schild, ich ducke mich unter meinem Blick geschickt hinweg und bin in Sicherheit.


Oder geht es um ein Duell? Etwa einen Unfall?
Zehn Schritte haben wir, bevor wir uns einander zuwenden, bevor der erste Schuss fällt. Ich werde betrügen. Ich werde betrügen wie immer, ich habe es noch nie geschafft, auf die Lüge zu verzichten, auf die Täuschung, ich bin zu schwach, mit offenen Karten zu spielen, ich bin zu stark, um unterzugehen, jetzt noch nicht. Das Haus wartet noch. Die Schwester. Die Mutter. Mein Sohn.
Ich drücke meine Schulterblätter fester in meine Gegnerin hinein, ich fühle, wie sie Kuhlen in ihre Oberfläche formen, spüre kleine Klümpchen ihres Leibes an meinem Nacken, losgelöst von ihrem unendlich schweren Ganzen, so viel schwerer als ich, so viel größer, unbeteiligt und gnadenlos und doch das Zuhause. Schließe meine Augen.
Halt mich fest. Nimm mich zurück. Aber unbefleckt nimm mich zurück, nimm mich ganz, verstecke mich bei dir, lösche mich aus, verändere mich, bis ich eine andere werde, eine Kuh vielleicht oder eine Pflanze.


Packend, wie sie das liest, die Wienerin.
Allerdings stören mich die vielen Adjektive, die die Autorin verwendet: .. das dampfende Brot auf dem klobigen Holztisch der Küche, die dampfende Schwelle aus Stein, die dampfenden Hände über den Schneewehen, die halbverhangenen, dunklen Augen, so dunkel wie ihr Schwarzbrot, das sie liebevoll an ihre flache Brust gedrückt hält, jeder Laib Brot perfekt rund, der Bauch einer Fruchtbaren, deren Frucht genießbar ist, nicht nur genießbar, sondern gut, nicht verdreht und verdorben wie mein Leben…

Ich bin irritiert, weil ich noch keinen Anhaltspunkt dafür habe, um wie viele Morde, um wie viele Personen es hier geht: Ein Mord? Ein Unfall? Oder doch zwei Morde?
Dann um 12:21 Uhr taucht anscheinend eine weitere Leiche auf:
„Ich komm gleich“, lüge ich. Meine manikürte Hand verschwindet in seinen weiten Manteltaschen, ich gleite in sein Geheimnis hinein, das ich unbedingt lüften möchte, und wühle in ihm herum, wie er in mir wühlen würde, wenn er noch könnte.

Hat sie sich mit einer Rivalin duelliert und danach den eigenen Mann erschossen? Ich sehne die Auflösung, einen klärenden Hinweis, die die Irritation auflöst, herbei.
Doch die Autorin, die Erzählerin, tut mir diesen Gefallen nicht.

12:25 Uhr – Erneut Textstellen, die Beklemmung auslösen, auch weil ich nicht weiß, um was es hier im Text nun eigentlich geht? Etwa einen Kindesmissbrauch? Aus dem sich das Kind später als Erwachsene, Heranwachsende befreit? Oder warum wünscht sie sonst diesem „Er“ den Tod?
Ich sehe mich neben ihm stehen, dort im finsteren Gang zwischen den bemalten Bauernmöbeln, den rauen Teppichläufer mit eingewebten roten Hähnen unter meinen bloßen Fußsohlen, wie ich meinen Kopf müde an seine Schulter lege. Er riecht so vertraut wie nichts sonst auf der Welt, ich kann die erbrochene Muttermilch an seinen Mundwinkeln noch riechen, ich lege meinen Kopf mit allem Gewicht an seiner Schulter ab und sage: „Wann stirbst du endlich.”

Oder wie ist diese Schilderung einzuordnen? Sowohl die soeben zitierte Textstelle, wie auch die nachfolgende, die auch wieder auf einen Mord hindeutet:
Er übt schon für seinen großen Schlaf, der vermutlich unmittelbar bevorsteht, und wie jeder, der seinem Hobby mit Hingabe frönt, möchte er dabei nicht gestört werden. Stundenlang liegt er auf dem Rücken, die Hände mal andächtig, mal majestätisch über dem hoch aufragenden Hügel des Bauches auf die Brust gelegt, auf der sich graublonde Haare wie kleine, feuchte Schlangen einringeln.
Mal sieht er stundenlang an die Decke, die Spinnweben in den Ecken habe ich entfernt, damit nicht alles, was er sieht, ihn an Verfall erinnert, geblieben sind die von der Sonne ausgeleuchteten Umrisse des Lusters, den seine Exfrau mitgenommen hat. Er betrachtet das abgenutzte Kabel, das sich aus einem falschen Stuckgeschwür auf der Decke windet, den leeren weißen Ring der Aufhängung, die kleinen Fetzen, die sich aus dem Kabelgeflecht lösen. Knipst die Tischlampe an, die ich ihm auf sein Nachtkästchen gestellt habe. Dann fixiert er seine aufgedunsenen Füße, die unter der Decke hervorsehen. Breite gerillte Nägel.


12:28 Uhr - Wer ist dieser Leo, von dem hier die Rede ist? Ist er das männliche Mordopfer?
Eingesetzt im Rahmen von Leos Fenster, von Leos Leben werde ich harmlos, zahm, bürgerlich. Meine kurze Atempause, ein vorübergehender Rastplatz, ganz anders als die übrigen Rastplätze meines Weges, verstreut an Autobahnen und Vororten von Industriestädtchen. Wenn ich abends das Haus verlasse, um das Geld zusammen zu bekommen, auf das drei Menschen warten, stelle ich mich niemals ohne Grund zur Schau.

Ich seufze laut. Dieser Text hat etwas Beklemmendes. Ich weiß nicht, woran es liegt!? An den verwendeten Worten? Oder an der Art, wie die Autorin ihre Sätze baut? Oder am Vortrag? An der etwas zu hohen, sich beinahe überschlagenden Stimme, mit der die Autorin liest.

12:35 Uhr – ich weiß immer noch nicht, worum es in der Geschichte eigentlich geht.
In einem Buchladen, hätte ich das Buch bereits zur Seite gelegt und mich einem anderen zugewandt. Hier vor dem Fernseher fesselt mich irgendetwas an diesem Text.
Ich wage nicht aufzustehen, um mir etwas zu trinken zu holen. Ich will den nächsten Satz, das nächste Wort dieser Autorin nicht versäumen. Was ist das nur, was hier mit mir geschieht?

12:39 Uhr – Während des Lesens komme ich erneut ins Sinnieren: Oder könnte es sein, dass es hier um einen schwer Pflegebedürftigen geht? Um eine Frau, die ihren Mann, einen Behinderten, aufopferungsvoll pflegt?
Leo legt mir seinen Arm um die Schultern und hängt sich mit vollem Leogewicht an mein Rückgrat. Ich ziehe ihn weiter, bis er halb aus dem Bett heraushängt wie ein Darm aus offener Wunde.
„Ich komme nicht raus“, stößt er hervor. Er klingt, als ob er den Tränen nahe wäre, sie aber mit aller Kraft unterdrückte. Ich bin gnadenlos, ich zerre weiter an ihm.
„Komm, Leo. Das geht.“
Ich will nicht daran glauben, dass er in diesem Bett mit mir bis ans Ende der Tage liegen wird, ich will nicht mit ihm gemeinsam unter seiner vertraut stinkenden Decke gefangen sein, ohne eine Aussicht, dieses Zimmer je wieder zu verlassen.


Genial – wie Julya Rabinowich ihren Text aufgebaut hat. Wie die Autorin mit ihrer Erzählstimme mich zu fesseln versteht. Auch sie erhält langanhaltend Applaus.

Jetzt bin ich sehr gespannt auf das Urteil der Juroren.
Es tröstet mich ungemein, dass alle unisono der Meinung sind: Dies sei ein schwieriger Text.
Die Juroren sind sich nicht einig, worum es hier eigentlich geht. Ich bin erleichtert, weil ich dachte schon, ich verstehe irgendetwas nicht. Aber wenn es den hohen Literaturkritikern auch so geht ;-)

Hubert Winkels versucht sich als erster, „einem schwierigen Text anzunähern.“ Er meint, wir erleben eine Frau in ganz verschiedenen Verkleidungen: als Gogo [girl?], als erdmütterliche Gottheit, die in die Erdschöpfung zurück will, eine Spinne, die ihr Männchen nach dem Geschlechtsakt frisst, es gäbe viele Bewegungen, hier eine mythische Gestalt zu entwerfen.
Claude Sulzer meint, es dauert eine Weile, „bis man die Konstellation dieses Textes kapiert“
Ach, was bin ich froh, liebe Leserinnen und Leser.
Sulzer meint weiter, es gehe hier um „eine Frau aus Osteuropa, eine unerträgliche Zicke mit mystischem Hintergrund“.
Meike Feßmann stellt fest: „Es bedarf keiner großen Symbolik um den Text aufzuschließen, es ist gewiss eine Frau aus Osteuropa, die ihn [Anmerkung: den Mann, den ich für den Kinderschänder hielt] betreut, am Anfang denkt man, das ist ein Liebesverhältnis… dann wird klar, sie [Protagonistin] pflegt ihn… sie war eine Prostituierte, die den Mann auch körperlich betreut… ein schwieriger Text. Es ist schwierig zu erkennen, welches Thema in diesem Text liegt.“
Burkhard Spinnen meint, der Plot erinnere ihn stark an einen weniger bekannten Roman von Arthur Schnitzler.
Feßmann ist entsetzt und weist den Vergleich mit Schnitzler brüskiert zurück: „Nein dies ist ein Ekeltext, der hat mit Schnitzler nichts zu tun.“
Sulzer mischt sich ebenfalls nochmal ein: „Den Ekel vor Körper empfindet sie [Protagonistin] doch gar nicht… sie sucht doch diese Situation, sonst würde sie doch nicht abends als Prostituierte anschaffen gehen.“
Ich halte es da mit Paul Jandl, der vorher schon meinte: „Jeder findet hier sein Thema, der Text lässt sich in jede Richtung interpretieren. Ein Text mit allen Möglichkeiten.“

Dieser kurze Auszug aus meinem „Jury-Protokoll“ mag Ihnen aufzeigen, liebe Blogleser-innen, was für eine diskussionsfreudige Jury heute die Texte begutachtete. Eine wahre Freude war das.
Dank an den Juror, der diesen Text und seine Autorin in den Bewerb einlud. Das Salz in der Suppe, passend vor der Mittagspause.


Mich zieht es nun nach diesem vormittäglichen Lese-Marathon hinaus, in die Weinberge, zu einem kleinen die Rebstöcke umrundenden Lauf. In einer halben Stunde bin ich wieder zurück.
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