Bachmannpreis 2.Tag - 5.Lesung

14:15 Uhr – Steffen Popp (D, Jg 1978)

Spur einer Dorfgeschichte


So, noch dieser Text, dann haben wir es für heute geschafft.
Zunächst das Videoporträt. Nanu, ich sehe keine Person, nur einen hin und her hüpfenden Stuhl.
Was wird das nun? Welche Botschaft übermittelt mir das?

Spur einer Dorfgeschichte, lautet die Überschrift, hoffentlich keine tiefenpsychologische Bestandsaufnahme einer Dorfgemeinschaft, denke ich.

Ich höre die ersten Sätze, merkwürdig, alle Autoren eröffnen heute ihre Texte mit Beschreibungen einer Naturlandschaft, auch Steffen Popp, der im Studio vorzulesen beginnt:
Früher Morgen, Lauf über glitzerndes Feld. Durch eine schwebende Nebelbank in den Baumbestand tauchen, vereisten Bachläufen folgend, auf Talgründe zu, in Hohlwegen aufsteigend, mittleren Gipfeln entgegen. Vor langer Zeit markierte Aussichtspunkte, von Bäumen geschluckt. Nicht deine Geschichte – die einer Besiedlung, eines Waldhamsters, der in seinem Bau nicht mehr erwacht nach Monaten Schlaf unter Schnee. Starre, frostklar. Fernes Geräusch einer Axt.
Das innere Licht; Menschen, die von nichts anderem leben angeblich. Dich zehrt es aus. Nur für den Fall, dass es existiert. Cordelia und Berthold, die diese Perspektive teilen, Dirk, der sie ignoriert. Auf der Rückbank von Dirks Golf: der fahrbare Untersatz gehört dem Ignoranten, du kannst ihn nicht einfach rausschmeißen. Am Innenspiegel baumeln ein ausgeblichener Duftbaum und ein knollennasiger Troll, die Berthold nachdenklich stimmen.


Der Text liest sich wie ein Lauf übers abgeerntete Stoppelfeld. Liegt es daran, dass ich vorhin Laufen war…. Nein, es liegt am Lese-Fluss des Autors. Und an seinem Satzbau, den dieser Autor anwendet: kurze Sätze. Abgehackt wirkend, weil durch Kommata getrennt. Die Gedanken kompakt in kurze maximal zehn Zeilen umfassende Absätze gefasst, komprimierend, verdichtend. Die Charakteristik eines Dorfes verdichtet er auf wenige Zeilen:
Das Dorf hat Flügel, sitzt auf dem Gebirgsrücken wie ein Vampir. Nachts überfliegt es die Wälder, riesiges Schwarz, mit kleinen Lichtinseln, schimmernden Kugellampen. Ein eigener Kosmos – eine Möchtegernmilchstraße, in der du mit Laufschuhen stehst. Deine Ideen sind ihm egal, seine Beute ist Leben. Die alles durchdringende Vergreisung, Verzwergung, Verstetigung wirft Cordelia nieder, in schönen Schnee, der sich im Wärmefeld ihres Körpers in Matsch verwandelt. Das glücklose Schienbein Bertholds ragt ins Bild.

Ja, dieser Autor nimmt uns mit auf seinen Lauf um das Dorf herum, in es hinein, in die dunklen Mythen, die Geheimnisse einer Dorfgemeinschaft, dargestellt an einer Gruppe von vier Freunden?
Viel Elend unterm Dach dieses Schädels ahnt Berthold. Da er nur Soziologie lernte, kann er keine bessere Diagnose stellen. Der Terrier, die Promenadenmischung mit Terrieranteil wenigstens, du wusstest nicht, dass Fell vergilben kann. Dieses Tier war mal weiß. Es kläfft, eine Art Quietschen, ins Nichts. Sie hänge so an diesem Hund. Der, stranguliert, doch optimistisch blickt – eingepackt in ein fussliges Leibchen aus Fleece.

Es dauert nicht lang, die Laufschuhe trage ich noch von meinem Mittagslauf und ich folge dem Protagonisten und seinen Freunden. Schritt für Schritt jogge ich hinter ihnen her, von Haus zu Haus in dieser Dorfgemeinschaft, werfe mit ihnen einen Blick durch die Fenster der windschiefen Gebäude: Der emeritierte Professor schrubbt den Fliesenboden seiner Küche mit einer Wurzelbürste. Hand, die mal Walnüsse knackte, nun beinahe knochenlos, eine Arthrose-Fallstudie aus Sehnen, Muskeln, einigem Knorpel und Gewohnheit. Einen hässlichen Leuchter sieht Cordelia, darunter Ferro-Musikkassetten (Telemann, Händel), ausrangierte Laptops, darauf Staub von Zimmerpflanzen, Spuren von Zimmerspinnen.
Demonstration auf dem Rücken der traurigen Hand: Zusammengedrückte Haut, die als Falte stehen bleibt, zeigt Wassermangel an. Was alten Leuten im Übrigen gleichgültig sei. Brüder, in eins nun die Hände! auf einem Spruchband am Tor eines Schlachthofs. Lange sei alles her. Arzneimittelforschung für die Armee. Pro bono Sommercamps für epilepsiekranke Kinder. Einführen einer Kapillare in den Gallenblasengang einer Versuchsratte, seinerzeit ungeschlagen in zwölf Sekunden.
Weitere Anekdoten aus dem Sozialismus erbeutet Berthold. Die riesige Bollhagenvase im Hintergrund glüht schwarzblau. In der winzigen Küche Wasser aus einem Altbunzlauer Krug in ein Born-Senfglas einschenken.


14:31 Uhr – Der Text wirkt immer noch wie eine Joggingrunde auf mich, ein langer gleichmäßiger Lauf, der die Häuser und Menschen, die in den Vorgärten oder Hauseingängen auftauchen, nur kurz aufscheinen und schon wieder verschwinden lässt, weil der Läufer vorüber, beim nächsten Grundstück ist.

14:34 Uhr – da eine Stelle im Text, wo klar wird, hier beschreibt kein Marathoni seinen zehn-Kilometer-Lauf, sondern es geht wohl um die Landnahme einer Gruppe von Freunden, die erwägen, sich auf dem Land anzusiedeln und den neuen Wohnort in Augenschein nehmen:
Vor dem fleischfarbenen Neubau der Feuerwehr in einem Schneehaufen sitzend, siehst du das Grundbuch des Orts: Generationen alter Streit um Liegenschaften, Durchfahrten, groteske Anbauten; ein den Berg spiegelndes Gebirge von Hypotheken, Verbindlichkeiten; Zäune aus Holz und Draht um jeden Fußbreit Erde.
Cordelia erfasst das Dorf mit ruhigem Blick: Substanzwert null, gerade noch zum darin Wohnen geeignet. Ein Fall für den Bagger, wenn nicht das Geld für einen Abriss fehlte. Cordelia findet Bertholds Vision von einem Dorf aus Glas bedenkenswert, vor allem schön –das im Sommer dunkel, im Winter durchscheinend wäre, von fern gesehen nicht mehr als weiße Rodungsflecken im Gebirge. Dirk findet zwei leere Bierflaschen auf einem Sims.


14:37 Uhr – Endlich, liebe Leserinnen und Leser, ich erhasche einen Einblick in den Background einer der vier: Poetischer Ton Cordelias, die bei Roland Berger in München Mergers&Aquisitions betreut, dich überrascht. Nicht weiter verwertbar.

Schon zum fünften oder sechsten Mal jogge ich an der Zwischenüberschrift „Suche nach Dorfbewohnern“ vorbei, der Beschreibung im Text folgend: Der Marder, die Maus. Der Leguan Hans, der nach seiner Bergung aus einer falsch zugestellten Kiste Jahre im Fenster der Poststelle saß...

14:41 Uhr – Aha… oder handelt es sich um eine Ski-Ausfahrt? Ich spüre wie beim Zuhören, meine Laufsohlen sich verlängern, nach vorne spitz zulaufend, von einem Baum fallen zwei Äste herunter, geradezu in meine halb geöffneten Hände hinein, formen sich zu Stöcken aus:
Ungeschickt klinkst du die Abfahrtsstiefel in fossile Bindungen ein, jedes Geräusch knallt wie ein Schuss über dem gefrorenen Tal. Erste Bögen in Zeitlupe, steif, ein Wunder, dass du nicht stürzt, sich etwas in dir erinnert, die nötigen Abläufe freigibt.
Durch stiebendes Pulver über festen Altschnee; mit jeder Bewegung kommt mehr zurück, Kontakt, Erfahrungen mit diesem Hang. Im Wechsel der Schwünge siehst du das Dorf als Helix, Rest eines Kodes, den niemand mehr abliest. Postkartenschön steht es im Eis, ein Spiegel innerer Reglosigkeit, während dein Körper beschleunigt, das Gelände automatisch nimmt. Lumineszenz, Binnenbrillanz des Verfalls – dann eine Bodenwelle, die dich hochwirft, hart in den Schnee zurückschickt, jedes Denken zerstäubt. Das spüren, und alle Torheit verbrennen,
sollst du downhill im Weiß. Am Ende des Auslaufs steht Dirk, mit seiner riesigen Schneebrille wie ein Philosoph. Dein letzter Bremsbogen reißt euch beide um. Noch mal beim Professor, da Berthold den Windschutz vom Mikrophon liegen ließ; Einlass gewährt seine Frau. Freundliches Vogelgesicht hinter dampfendem Tee.



Der Text packt mich, warum auch immer, er hat was. Er ist geheimnisvoll. Warum dieser Lauf-Stil? Warum diese gehäufte Verwendung an Worten, die üblicherweise Bewegung ausdrücken? Eine neue Form der Prosa, fast schon Poesie?

Langer Applaus brandet im Klagenfurter Fernsehstudio auf. Oh, ist das schwer. Dieser außergewöhnliche Text gefällt mir sehr. Spontan denke ich: „Eigentlich der erste Text, der in der Tradition einer Gruppe 47 oder einer Ingeborg Bachmann steht“- ohne es genau begründen zu können, es ist so ein Bauchgefühl.

Ich bin sehr auf die Auflösung und die Ausführungen der Jury dazu gespannt.
Daniela Striegl: „Ein sehr reichhaltiger Text. Der Text versucht ein EEG eines Dorfs zu zeichnen und der vier Personen, die dieses Dorf erkunden. Die Geschichte ist im Präsenz erzählt und passt zur Momentaufnahme.“
Hubert Winkels: Der Text stelle wegen seiner besonderen Machart eine Besonderheit dar : Es ist der Text vor dem fertigen Text. Eine Art Vortext, der noch nicht fertig erscheint. [Anmerkung: Vielleicht ist das der Grund, weshalb mein Eindruck von einem Lauf aufscheint, nach dem ich vieles später in Ruhe nochmal ansehen möchte, in Ruhe durch das Dorf zu Fuß gehen möchte: Text für Text dieses Buchromans?]
Claude Sulzer stört der Text bzw. das Vorlesen. Durch das Vorlesen habe sich dieser Text für ihn nicht erschlossen. Er meint: „Würde man Text anders strukturieren und zeichnen, wäre dieser Text keine Prosa sondern ein Gedicht!“ [Eine interessante Einlassung, finde ich]
Hildegard E. Keller nimmt im Text einen „ganz großen Eigensinn wahr“. Er sei eine Recherchereise , eine Archäologie eines Dorfes. Der Text sortiert. Dies werde ausgedrückt durch diese Zwischenüberschriften wie „Suche nach Dorfbewohnern“. Man spüre im Text die Aufnahme des Inventars und irgendeinen Anspruch einer Weltabbildung, einer vergangenen Welt natürlich. Der Text verzichte bewusst auf eine Regie, aber ihr sage der Text nicht, was die Suche trägt, was das Inventar trägt, das lässt sie etwas ratlos zurück.
Meike Feßmann hält den Text nicht für ein „halbfertiges Produkt“, sondern für „einen Text, wo jedes Wort sitzt“. Er heiße nicht umsonst „Suche nach Dorfbewohnern“. Tatsächlich seien es „drei Personen, die losreisen: Cordelia, Bertholt, der Erzähler und jener Dirk, dem der Golf gehört und der immer im Weg ist.“ Die drei bereisen das Dorf miteinander. Der Autor fände „unglaublich poetische Bilder für dieses Dorf, in dem früher Glas hergestellt wurde. Er hat die gleichen Schwierigkeiten wie der Landvermesser und er hat seine Schwierigkeiten mit dem Vermessen und nimmt den Sprung nach vorn ins Poetische.“
Burkhard Spinnen hält den Text für „eine bewundernswerte Komposition, so wie ein Jazzmusiker auf jeden hingeworfenen Ton reagiert…. Es könnte ewig so weiter gehen und dann kommt die blöde prosaische Frage von mir und dann hänge ich fest, dieses sich anzuverwandeln…. Thüringen und dann, na und?“ Jedenfalls genügt es dem Jury-Vorsitzenden nicht, dass „jemand nur die Poesie darüber webt wie ein Saxofonist“ Mir scheint, Spinnen sieht die Wirkung des Textes im Erstarren, wie man vor einem Maler, einem Musiker, einem Zauberer fasziniert erstarrt. Das ist dem Jury-Vorsitzenden zu wenig, wie mir scheint.
Ernst Jandl hält da nochmals dagegen: „Ein Text muss nicht ganz fertig sein, der Leser kann auch Teil des Textes werden. [Genau, das denke ich auch]
Ihm, Jandl, zeigten sich immer wieder neue poetische Bilder… wie in einem Muster haben sich immer wieder neue erschlossen… man könnte diesen Text immer wieder neu betrachten und lesen, da sich ständig neue Bilder in das eigene Bewusstsein rücken. Jandl fragt sich, ist hier der Versuch einer Poetologie gemacht worden?
Hubert Winkels: „Das, was wir sehen, ist durch die Lyrische Poesie vermittelt und nicht durch die Stilmittel einer Reportage.“ Spielt er damit auf den ersten Lesetext heute Morgen an?
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