otto (Gast) - 4. Aug, 15:23

Substanz und Form

Form ohne Inhalt finde ich hohl, und Inhalt ohne Form finde ich gewöhnlich, höchstens journalistisch, aber nicht literarisch. Aus literarischer Sicht lohnt es sich nicht, über „Leergut“ zu reden (Formen), ebenso wenig wie es sich lohnt, über einzelne Inhalte und Methoden zu reden. Das Problem ist ein ganz anderes: Was ist die Substanz eines Werkes? Worin besteht sie? Hier bin ich bei dem, was ich die Art und Weise der Sicht der Erzählerinstanz(en) auf die Welt und ihre Dinge nenne – die ihr zugrunde liegende Philosophie.

In der Literaturgeschichte lässt sich sehr genau nachweisen, dass neue literarische Formen immer der Ausdruck einer veränderten Weltsicht waren – teils von Subkulturen. Die Literatur des 18. Jahrhunderts ist aus der fundamentalen Kritik an der Weltsicht des 17. Jahrhunderts entstanden: Der geistige Überbau der optimistischen Aufklärung hat die pessimistische Vanitas des Barock in Stücke gehauen, und später folgten Klassizismus und Romantik und taten dasselbe mit der Aufklärung. ETA Hofmann, Goethe, Schiller, Eichendorff, Heine usw. waren keine Autoren, die nur reihenweise gute Plot-Ideen hatten oder neue Formen ausprobierten, vielmehr brachten sie mit ihren Werken die neue Weltsicht zum Ausdruck, zum Beispiel den Megatrend hin zum bürgerlichen Selbstbewusstsein. Ein „Werther“ hätte mit barocker Weltsicht, barocker Schere im Kopf, nie geschrieben werden können, ebenso wie ein romantischer Autor im Barock nie verstanden worden wäre.

Ich denke, dass Leute, die Autoren/innen sein möchten, sich sehr genau darüber im Klaren sein sollten, welche Weltsicht sie in ihren Texten (auch unterschwellig) zum Ausdruck bringen, und wie sie diese literarisch gestalten, das heißt mit existierenden Formen literarisch kommunizieren. Keine Geschichte läuft von selbst. Ihr Motor ist die philosophische Substanz. Sie bestimmt auch die Form.

Teresa HzW - 6. Aug, 23:03

Lieber Otto,

wenn man die Maßstäbe des Qualitätsjournalismus anlegt, orientiert gerade journalistisches Schreiben seine Inhalte an bestimmten (Darstellungs)Formen. So folgt der Inhalt einer Reportage anderen Formerfordernissen wie der Inhalt eines Features, gleiches gilt auch für die Meinungs orientierte Form der Glosse oder des Kommentars.

Anders in der Literatur… ich habe eine sehr schöne Stelle in einem Buch über die Gruppe 47 gefunden, in der Hans Werner Richter über die Anfänge der Gruppe (auf S. 76) Folgendes reflektiert: „Wir glaubten nicht an die Wiederkehr des Alten. Und so wie wir die politischen Konzepte der Vergangenheit für nicht mehr realisierbar hielten, so waren auch die literarischen Schulen der Vergangenheit für uns veraltet. Ja, ich selbst hielt die Zeit der literarischen Revolutionen, vom Naturalismus bis zum Expressionismus, für endgültig abgeschlossen. Eine neue Literatur mußte nach diesem Zusammenbruch entstehen, nicht aber eine neue Schule, die nur die Formexperimente der alten fortsetzte.“ (Hans Werner Richter, in Hans Werner Richter und die Gruppe 47, herausgegeben vom Langen-Müller-Verlag, 2007, ISBN 978-3-7844-3114-7).

Herzlich
Teresa
MelusineB - 13. Aug, 13:30

Ich stimme Ihnen völlig zu, dass Form und Inhalt einander bedingen (sollten). Auch, dass jede formale Entscheidung eine bestimmte Weltsicht voraussetzt und evoziert, ist wahr. Jedoch erzählen Sie - aber vielleicht missverstehe ich das auch - die (Literaturgeschichte) hier als eine Geschichte des "Fortschreitens", um nicht zu sagen des Fortschritts. Es ging/geht aber auch immer etwas verloren. Denken Sie nur - um zum Barock zurückzukommen - an das Verhältnis Bild/Text in der Emblematik. Deshalb kann ein Blick zurück immer auch genutzt werden, um Formen (wieder-) zu finden. Das muss nicht zwingend in den Eklektizismus führen.

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