Der Buecherblogger (Gast) - 26. Apr, 18:02

Erinnerungsfragment W.

Im "Tagebuch 1966-1971"(1974) steht die "Urfassung" dieser Binnenerzählung, wie man im Montauk-Artikel auf Wikipedia erfährt. Sie ist kürzer und lautet so:

DANKBARKEITEN

Keine Instanz verlangt jährlich oder zweijährlich (wie die Steuerbehörde) eine Liste der Dankbarkeiten... Gestern auf der Straße habe ich von fern einen Mann gesehen, dem ich viel zu verdanken habe, sogar sehr viel. Es ist zwar lange her. Er scheint es zu wissen, daß ich ein Gefühl der Dankbarkeit nie loswerde; Gefühl ist es eigentlich nicht mehr, aber Bewußtsein. Lebenslänglich. Hingegen hatte ich das Gefühl, er habe mich vorher schon erkannt, aber er ging weiter, tat, als habe er mich nicht gesehen. Was soll er mit meinem Bewußtsein von Dankbarkeit? Ich hätte ihm gerade noch nachlaufen können, tat es nicht und war betroffen, daß ich es nicht tat. Er hat nicht allein mein Studium der Architektur ermöglicht; Schopenhauer, Mozart, Nietzsche, Psychologie, Riemenschneider, Oswald Spengler, Bruckner, Khmer-Kunst und so vieles verdanke ich diesem Mann, auch das Engadin. Seine Anzüge allerdings, Mäntel, alle noch in gutem Zustand, wenn er sie dem Freund vermachte, waren immer etwas zu groß, vorallem die Ärmel zu lang... Gäbe es eine Instanz, die eine Liste der Dankbarkeiten binnen einer Woche verlangt, so würde ich ferner auf die Liste setzen:

a.
die Mutter
b.
die Tatsache, daß ich sehr früh einem jüdischen Menschen begegnet bin, einem sehr deutsch-jüdischen
c.
der frühe Tod des Vaters
d.
die Erfahrung der praktischen Armut
e.
daß ich nicht nach Stalingrad befohlen worden bin oder in die Reichsschrifttumkammer
f.
eine leichtsinnige Gesundheit
g.
die Begegnung mit Peter Suhrkamp
h.
die Begegnung mit Brecht
i.
daß ich Kinder habe
k.
daß ich die Germanistik aufgegeben habe
l.
alle Frauen, ja, eigentlich alle

...

Teresa HzW - 27. Apr, 22:21

Frisch`s Arbeitsweise

Lieber Bücherblogger, liebe geschätzte [Mit-Leser[innen],
wie ich zwischenzeitlich aus einem anderen Büchlein* erfahren habe, war das die typische Arbeitsweise von Max Frisch. Die Aufzeichnungen in seinen Tagebüchern - wie der von Ihnen zitierte, lieber Bücherblogger - waren immer Frisch`s Grundlage für die spätere Aufarbeitung:
"Am Tag ihrer Entstehung hat er die Passagen oft nur flüchtig memoriert. Genau wie beim Schreiben fiktionaler Prosa dient[e ihm] die zweite Arbeitsphase der Gestaltung, der Schaffung einer textimmanenten Wirklichkeit, die sich vom Erlebten und von historisch verbürgten Ereignissen löst. Letztlich bestimmt Frischs Wille zur Form, zur Gesamtkomposition die Auswahl [die er trifft] und die Anordnung der Abschnitte, nicht der Zeitpunkt ihrer Entstehung". *Dies schreibt Jan Bürger im Marbacher Magazin, Nr. 133, auf Seite 52 über die Arbeitsweise von "Max Frisch, Das Tagebuch". Bürgers Essay bezieht sich zwar auf das Tagebuch 1946-1949. Meines Erachtens kann das, was Jan Bürger für dieses erste Tagebuch feststellt, das erstmals im September 1950 im neugegründeten Suhrkampverlag erschien, genauso für alle anderen Tagebuch-Erzählungen von Frisch gelten. Und Montauk ist - auch wenn es zu Frisch`s Spätwerk zählt, ebenso eine Tagebucherzählung.
Herzlich
Teresa

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