Tagwerk14 – Nach[t].Lese[ung].
Kennen Sie das auch, werte Leserinnen und Leser, dass einem etwas, in meinem Fall ein [Block]Eintrag, partout nicht von der Hand gehen mag? Dass man sich von allem möglichen ablenken lässt? Zerstreuung sucht. Obwohl man - in diesem Fall "ich" - nur die Tasten berühren und runter schreiben bräuchte. All das, was sich vor dem geistigen Auge zutrug. Was man nur als Erinnerung aus dem Gedächtnis abzurufen hätte.
Über das Gedächtnis und die geistige Vorstellungskraft will ich mich hier und heute wahrlich nicht ins Philosophische versteigen, das tat ich bereits gestern bei dem von mir sehr geschätzten Herrn Josef auf seinem Pjerunje-Blog, dem ich einen „geistreichen Sermon“, der jedoch nicht aus meiner Feder, sondern aus der des Augustinus stammte, einstellte. Der so wunderbar, dass ich mich heute noch daran erinnere. Worauf es hiermit auch bei mir mittels Verlinkung verewigt sei.
Aus meiner eigenen Feder floss anderes, was ich bereits im letzten Tagwerk angekündigt und vorausschauend, Ihnen Appetit machend, mit klangvollen Textbeispielen am Samstagnachmittag einstellte, bevor ich aufbrach. Zu einer Lese der besonderen Art.
Eine Vor.Les.[e.]ung.
Über die ich heute doch noch einige Worte sagen mag.
Chronistisch [nicht chronologisch, denn sonst hätte ich sie bereits am Sonntag hier einzustellen gehabt] festhaltend. Damit ich in einigen Monaten, falls mich wieder eine solche Fügung einholt, den Verlauf, die Emotion, nachlesen, mir vergegenwärtigen kann.
Genug des Sermons! Sie wollen gewiss endlich lesen, was sich an jenem Abend zutrug:
Es war eine illustre Runde aus Künstlern, Literaturbegeisterten, Musikern und Selbstständigen unterschiedlichster Couleur, zu der ich aufbrach. Weit hinaus fuhr in die helle Vollmondnacht. Hinauf auf die Kalte Alb. Die Schwäbische Ostalb. Mich verfuhr, verfranste, in einem der Käffer dort oben, wo mich das GPS wie auch das Smartphone, mit dessen Googlehilfe ich dann den Weg zu erkunden suchte, im Stich ließ und ich durch die erste kalte Frostnacht irrte. Bis ich endlich, die letzten zehn Kilometer frei Schnauze fahrend, weil die Berge das GPS abschirmend und das Smartphone sich aufhängend, das Ziel doch noch fand, da ich mich an einen der Nachbarorte erinnerte, wo ich bereits einmal, vor einem dreiviertel Jahr, bei Tag gewesen. Von dem aus ich dann den Ort des Ereignisses fand.
Ich traf also ein, verspätet.
Just als man das Buffet eröffnete und der kleine Kreis der unverbesserlichen Optimisten zu Teller, Messer und Gabel griff: Ein Schinkenröllchen hier, ein Salami-Scheibchen dort sich angelte und manch Kultur- und Kunstbeflissene sich eine Ecke von den gewiss zwanzig verschiedenen Käse-Köstlichkeiten von Kuh, Schaf oder Ziege griff. Natürlich alles von den heimischen Öko-Bio-Bauern-Schlachter-Bäckereien, da auch noch einige köstliche Vollkornbrote das Buffet auf einem alten, schweren Eichenholztisch tafelnd stehend, ergänzten. Wie es sich gehört.
Dankbar, dem Alkoholkonsum der ersten Stunde entronnen zu sein, stürzte ich mich ins Ess-Getümmel, dankbar, dass auch zwei andere zu Lesende zu spät ankamen.
Insofern. Ich. Aufatmend.
Die Köstlichkeiten der älblerischen Buffetplatten genießend. Mit Käse auf Messer aufgespießt [da die Gabeln ausgegangen, als ich an die Reihe kam] mal hier mal dahin parlierend, Namen austauschend, die man kaum, dass sie gesagt, man gehört, schon wieder vergessend. Wie das eben so ist, beim Speed-Name-Droping. Wenn man binnen weniger Minuten mehrere [Jo]Hannas, Thomas, Sab[r]in[a]s, Jürgens sich zu merken hat.
Stattdessen versuchte ich zu assoziieren:
„Ah, der im bunten Hemd… aus Berlin… jener mit dem Westerl und der Cordhose… aus Good Old England eigentlich… heute jedoch in Hamburg lebend. Das Paar da drüben kennend… aus… Herrenberg.“ Man hatte sich einst hier schon bei einem anderen Feste kennengelernt und nett geplaudert. Die Frau im hellblauen Kleid und mit dünnsohligen Ballerinas an den Füßen, der Rest der Damen war bestiefelt, was ich bemerkenswert fand, vom Nachbardorf.
Bekannte Gesichter, einige jedoch das erste Mal hier. Es verhielt sich zu Beginn des Abends genau wie mit der berühmten Pareto-Regel: 80:20.
Gegen halbneun Uhr klatschte die Gastgeberin in die Hände und bat in den Salon, den Lesesalon, der eigentlich das Wohnzimmer. Hübsch hergerichtet.
Ein weisses Sofa in der Mitte des Raumes, dahinter zwei große Stehlampen, also eher moderne Halogen-Strahler, die so aufgestellt waren, dass der Vor-Lesende, sie in seinem Rücken, ihr Licht jedoch auf den Buch- oder Manuskriptseiten hatte. Das Sofa hätte gewiss vier Leuten Platz geboten. Jedoch. Es war die Bühne der Vortragenden. Nur sie hatten das Recht, sich darauf zu setzen, hinzuflätzen.
Artig mit geschlossenen Beinen – die Damen.
Ein Bein angewinkelt auf dem Sofa, das andere lang hingestreckt - der einzige Herr, der vorlas.
Entlang den Wänden waren alle erdenklichen Stühle, Sessel und Hocker, die es in diesem Haushalt wohl gab, reihum aufgereiht. Das Licht abgedimmt.
Die einzigen wahren Lichtquellen: die beiden Strahler und ein offener Kamin, in dem das Feuer prasselte. Auch davor saßen einige Gästinnen, darunter ich, so dass mir während des ganzen restlichen Abends niemals zu kühl, eher zu heiß wurde. Und das nicht nur wegen der strahlenden Lichtquellen hie wie gegenüber auf dem Sofa, sondern auch wegen des Lampenfiebers.
Zunächst eröffnete ein Freund der Gastgeberin, der als Conferencier durch die Nacht führend, den Lese-Abend, erläuternd den Ablauf, wie die Einladende ihn sich wünschte, vorstellte.
Dann Musik. Live. Sehr stillvoll ein Stehgeiger. Mit einem Blues… von Gershwin. Darauf folgte eine witzige Geschichte von Axel Hacke [ich weiß leider nicht mehr aus welchem Buch] über ein Paar, das zu einer Party aufbricht, um acht Uhr da sein sollte, jedoch um fünf nach acht immer noch nicht fertig angekleidet ist… Eine sehr witzige Eröffnung dieses Abends.
Danach las einer der Herren aus der Region vier Texte aus unterschiedlichen Büchern bekannter und weniger bekannter Gegenwarts-Schriftsteller. Der Geiger geigte. Und es folgte, die erste Lesepause. In der sich alle Getränke nachfassten, ein Zigarettchen ansteckten oder auf die Pippibox… oder einfach nur unterhalten konnten.
Das nutzten alle weidlich aus, so dass die Lesung erst gegen halbelf in ihre zweite Runde gehen konnte mit Conferencier`s Einleitungsworten, die Zuhörerschaft hinführend auf das, was im zweiten Teil geboten: Stehgeigende Musik aus dem 18. Jahrhundert. Ein Autorinnentext, der mich in seiner Machart stark an George Sand erinnernd, dann durfte ich…
Ich wählte meinen Auszug aus dem Familienepos, das schien mir am besten passend. Außerdem ein kurzer Text. Schließlich hatte ich einst gelernt:
„Du darfst über alles reden… nur nicht über eins dreissig.“
Daran hielt ich mich eisern. Und das war gut so.
Zum einen, weil ich diesen Text schon öfters vorgetragen, ich ihn quasi im Schlaf, auswendig hätte hersagen können. Zum anderen, weil er eben eher eine typische Kalendergeschichte ist, die das Tun genealogisch verbundener Familienmitglieder am Ende des neunzehnten Jahrhunderts enthüllt. Mit einer unvorhersehbaren Pointe, die bisher immer den Zuhörenden ein Lächeln auf die Lippen, ins Gesicht zauberte.
Und weil er entführt.
In eine längst untergegangene Welt. Eine Art Atlantis, das es heute nicht mehr gibt, auch wenn Cafés dieser Art, der Schauplatz meiner Geschichte, dem Namen nach noch existieren.
Danach zupfte ein anderer Musiker ein klassisches Stück aus dem neunzehnten Jahrhundert.
„Na, also. Passt doch“, dachte ich mir und war zufrieden über meine ausgewählte Geschichte.
Nach der Musik erneut Getränke fassen, rauchen, pippi, plaudern.
Mittlerweile war es Viertel nach elf. Die ersten hatten erneut Hunger und schnappten sich ein paar Magendratzerl vom Buffet.
Irgendwann um Viertel vor Mitternacht ging es weiter: Dieses Mal stiegen wir gleich mit dem Lesen ein [der Zeitablauf war wohl durch die langen Plauderpausen etwas aus dem Takt geraten, was jedoch keine[n] der Anwesenden wirklich störte. Eher im Gegenteil].
Während wieder die andere vor mir las und ich so gar nicht ihrer – wirklich sehr langen [Krokodils langen] Geschichte von einer Viertel Stunde – zuzuhören im Stande war. Was gewiss auch an der vorgerückten Stunde lag.
Ich gestehe, ich kämpfte mit Müdigkeit. Hätte gern einen Espresso getrunken. In der letzten Pause. Da keiner serviert wurde, wollte ich nicht diejenige sein, welche das Kaffeefass aufmacht, denn eigentlich wäre es ein leichtes gewesen, sich in der gegenüberliegenden Küche an dem wunderbaren Kaffeevollautomaten zu bedienen. Doch meine gute Kinderstube aus anno-dazumal-Zeiten hielt mich ab....
Sie kennen das ja, liebe Leser.
Hält bei so einem Anlass, zu vorgerückter Stunde, einer ein Tässchen duftenden Espresso in der Hand, wollen alle….
Und ich wollte mir gewiss nicht den Zorn der Gastgeberin zuziehen, weil sie hätte dann ja höchst selbst ihre Kaffeemaschine zu bedienen gehabt.
So verzichtete ich um den Preis, dass mir die Augenlider schwer wurden und mein Blick das Weite suchte. Das Weite der stockfinsteren Nacht, die sich zu meiner Rechten auftat, wenn ich über die Köpfe derer, die vor der langen Fensterfront saßen, hinweg blickte, auf die kleinen leuchtenden Pünktchen, die sich vom rechten oberen Fensterrand über sieben, acht Meter zum linken oberen Fensterrand hinweg bewegten. Autos in der Ferne. Vermutlich auf der A8. Von Stuttgart nach München fahrend. Wie in Zeitlupe.
Irgendwann nach dieser Viertelstunde, die mir eher wie eine Stunde vorkam, erhoben sich nochmals die beiden Musiker und geigten uns wirklich einen, der mich umhaute, einen Erwin Schulhoff-Tango… und da war ich dann wieder blitzwach
„Was soll man danach noch groß vorlesen!? Eigentlich wär` das ein schöner Abschluss gewesen“ fand ich.
Indes ich hatte nicht mit der Hartnäckigkeit dieses Kreises gerechnet. Nein, eine schöne, gruselige Gute-Nacht-Geschichte sollte es noch sein.
„Bitteschön, wenn Du so eine dabei hättest…?“ fragte die Gastgeberin mich erwartungsfroh.
„Hm….“ Das hatte ich eigentlich nicht.
Jedenfalls nicht geübt. Zu lesen. Vorzutragen.
Andererseits.
Ich hab doch immer mein Notköfferchen mit den Texten dabei, weil - Sie, liebe Leser, erinnern sich, was ich samstags schrieb, mich nicht entscheiden konnte - und ich es hasse, meinen Textordner auseinander zu reißen und hinterher die Texte wieder ordentlich zurück zu sortieren.
Also holte ich heraus…
Meinen Text über den Hiasl und die Schratzerln, meinen Text über die Raunächt`, die alsbald wieder beginnen…
Natürlich keine eins dreissig.
"Doch, wer eine gefühlte Lesestunde nach Mitternacht ausharrt, wird auch noch eine gefühlte Viertelstunde sich gruseln können" dachte ich mir, bevor ich mit dem Text in der Hand zum Sofa schritt.
Fünfundzwanzig Augenpaare funkelten mich hinterher aus dem halb abgedunkelten Raum an. Da wusste ich, dass ich richtig lag. Mit meiner Vor.Les.[e].ung.
*
Dass es spät war, bis ich in jener Nacht, in den frühen Morgenstunden wieder zurück am heimischen Neckarstrand war, erübrigt sich, breit auszuführen...
Dass es noch ein atonales Sonatenstück von John Cage als musikalischen Abschluss des Abends gab, das wollte ich Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, der Sie bis hierhin durchgehalten und dies gelesen haben, nicht vorenthalten….
Four minutes and thirty three seconds… dauerte das Stück….
Fast solange wie meine Waldprophetengeschichte...
Hören Sie selbst.... ;-)
2249 mal gelesen
Über das Gedächtnis und die geistige Vorstellungskraft will ich mich hier und heute wahrlich nicht ins Philosophische versteigen, das tat ich bereits gestern bei dem von mir sehr geschätzten Herrn Josef auf seinem Pjerunje-Blog, dem ich einen „geistreichen Sermon“, der jedoch nicht aus meiner Feder, sondern aus der des Augustinus stammte, einstellte. Der so wunderbar, dass ich mich heute noch daran erinnere. Worauf es hiermit auch bei mir mittels Verlinkung verewigt sei.
Aus meiner eigenen Feder floss anderes, was ich bereits im letzten Tagwerk angekündigt und vorausschauend, Ihnen Appetit machend, mit klangvollen Textbeispielen am Samstagnachmittag einstellte, bevor ich aufbrach. Zu einer Lese der besonderen Art.
Eine Vor.Les.[e.]ung.
Über die ich heute doch noch einige Worte sagen mag.
Chronistisch [nicht chronologisch, denn sonst hätte ich sie bereits am Sonntag hier einzustellen gehabt] festhaltend. Damit ich in einigen Monaten, falls mich wieder eine solche Fügung einholt, den Verlauf, die Emotion, nachlesen, mir vergegenwärtigen kann.
Genug des Sermons! Sie wollen gewiss endlich lesen, was sich an jenem Abend zutrug:
Es war eine illustre Runde aus Künstlern, Literaturbegeisterten, Musikern und Selbstständigen unterschiedlichster Couleur, zu der ich aufbrach. Weit hinaus fuhr in die helle Vollmondnacht. Hinauf auf die Kalte Alb. Die Schwäbische Ostalb. Mich verfuhr, verfranste, in einem der Käffer dort oben, wo mich das GPS wie auch das Smartphone, mit dessen Googlehilfe ich dann den Weg zu erkunden suchte, im Stich ließ und ich durch die erste kalte Frostnacht irrte. Bis ich endlich, die letzten zehn Kilometer frei Schnauze fahrend, weil die Berge das GPS abschirmend und das Smartphone sich aufhängend, das Ziel doch noch fand, da ich mich an einen der Nachbarorte erinnerte, wo ich bereits einmal, vor einem dreiviertel Jahr, bei Tag gewesen. Von dem aus ich dann den Ort des Ereignisses fand.
Ich traf also ein, verspätet.
Just als man das Buffet eröffnete und der kleine Kreis der unverbesserlichen Optimisten zu Teller, Messer und Gabel griff: Ein Schinkenröllchen hier, ein Salami-Scheibchen dort sich angelte und manch Kultur- und Kunstbeflissene sich eine Ecke von den gewiss zwanzig verschiedenen Käse-Köstlichkeiten von Kuh, Schaf oder Ziege griff. Natürlich alles von den heimischen Öko-Bio-Bauern-Schlachter-Bäckereien, da auch noch einige köstliche Vollkornbrote das Buffet auf einem alten, schweren Eichenholztisch tafelnd stehend, ergänzten. Wie es sich gehört.
Dankbar, dem Alkoholkonsum der ersten Stunde entronnen zu sein, stürzte ich mich ins Ess-Getümmel, dankbar, dass auch zwei andere zu Lesende zu spät ankamen.
Insofern. Ich. Aufatmend.
Die Köstlichkeiten der älblerischen Buffetplatten genießend. Mit Käse auf Messer aufgespießt [da die Gabeln ausgegangen, als ich an die Reihe kam] mal hier mal dahin parlierend, Namen austauschend, die man kaum, dass sie gesagt, man gehört, schon wieder vergessend. Wie das eben so ist, beim Speed-Name-Droping. Wenn man binnen weniger Minuten mehrere [Jo]Hannas, Thomas, Sab[r]in[a]s, Jürgens sich zu merken hat.
Stattdessen versuchte ich zu assoziieren:
„Ah, der im bunten Hemd… aus Berlin… jener mit dem Westerl und der Cordhose… aus Good Old England eigentlich… heute jedoch in Hamburg lebend. Das Paar da drüben kennend… aus… Herrenberg.“ Man hatte sich einst hier schon bei einem anderen Feste kennengelernt und nett geplaudert. Die Frau im hellblauen Kleid und mit dünnsohligen Ballerinas an den Füßen, der Rest der Damen war bestiefelt, was ich bemerkenswert fand, vom Nachbardorf.
Bekannte Gesichter, einige jedoch das erste Mal hier. Es verhielt sich zu Beginn des Abends genau wie mit der berühmten Pareto-Regel: 80:20.
Gegen halbneun Uhr klatschte die Gastgeberin in die Hände und bat in den Salon, den Lesesalon, der eigentlich das Wohnzimmer. Hübsch hergerichtet.
Ein weisses Sofa in der Mitte des Raumes, dahinter zwei große Stehlampen, also eher moderne Halogen-Strahler, die so aufgestellt waren, dass der Vor-Lesende, sie in seinem Rücken, ihr Licht jedoch auf den Buch- oder Manuskriptseiten hatte. Das Sofa hätte gewiss vier Leuten Platz geboten. Jedoch. Es war die Bühne der Vortragenden. Nur sie hatten das Recht, sich darauf zu setzen, hinzuflätzen.
Artig mit geschlossenen Beinen – die Damen.
Ein Bein angewinkelt auf dem Sofa, das andere lang hingestreckt - der einzige Herr, der vorlas.
Entlang den Wänden waren alle erdenklichen Stühle, Sessel und Hocker, die es in diesem Haushalt wohl gab, reihum aufgereiht. Das Licht abgedimmt.
Die einzigen wahren Lichtquellen: die beiden Strahler und ein offener Kamin, in dem das Feuer prasselte. Auch davor saßen einige Gästinnen, darunter ich, so dass mir während des ganzen restlichen Abends niemals zu kühl, eher zu heiß wurde. Und das nicht nur wegen der strahlenden Lichtquellen hie wie gegenüber auf dem Sofa, sondern auch wegen des Lampenfiebers.
Zunächst eröffnete ein Freund der Gastgeberin, der als Conferencier durch die Nacht führend, den Lese-Abend, erläuternd den Ablauf, wie die Einladende ihn sich wünschte, vorstellte.
Dann Musik. Live. Sehr stillvoll ein Stehgeiger. Mit einem Blues… von Gershwin. Darauf folgte eine witzige Geschichte von Axel Hacke [ich weiß leider nicht mehr aus welchem Buch] über ein Paar, das zu einer Party aufbricht, um acht Uhr da sein sollte, jedoch um fünf nach acht immer noch nicht fertig angekleidet ist… Eine sehr witzige Eröffnung dieses Abends.
Danach las einer der Herren aus der Region vier Texte aus unterschiedlichen Büchern bekannter und weniger bekannter Gegenwarts-Schriftsteller. Der Geiger geigte. Und es folgte, die erste Lesepause. In der sich alle Getränke nachfassten, ein Zigarettchen ansteckten oder auf die Pippibox… oder einfach nur unterhalten konnten.
Das nutzten alle weidlich aus, so dass die Lesung erst gegen halbelf in ihre zweite Runde gehen konnte mit Conferencier`s Einleitungsworten, die Zuhörerschaft hinführend auf das, was im zweiten Teil geboten: Stehgeigende Musik aus dem 18. Jahrhundert. Ein Autorinnentext, der mich in seiner Machart stark an George Sand erinnernd, dann durfte ich…
Ich wählte meinen Auszug aus dem Familienepos, das schien mir am besten passend. Außerdem ein kurzer Text. Schließlich hatte ich einst gelernt:
„Du darfst über alles reden… nur nicht über eins dreissig.“
Daran hielt ich mich eisern. Und das war gut so.
Zum einen, weil ich diesen Text schon öfters vorgetragen, ich ihn quasi im Schlaf, auswendig hätte hersagen können. Zum anderen, weil er eben eher eine typische Kalendergeschichte ist, die das Tun genealogisch verbundener Familienmitglieder am Ende des neunzehnten Jahrhunderts enthüllt. Mit einer unvorhersehbaren Pointe, die bisher immer den Zuhörenden ein Lächeln auf die Lippen, ins Gesicht zauberte.
Und weil er entführt.
In eine längst untergegangene Welt. Eine Art Atlantis, das es heute nicht mehr gibt, auch wenn Cafés dieser Art, der Schauplatz meiner Geschichte, dem Namen nach noch existieren.
Danach zupfte ein anderer Musiker ein klassisches Stück aus dem neunzehnten Jahrhundert.
„Na, also. Passt doch“, dachte ich mir und war zufrieden über meine ausgewählte Geschichte.
Nach der Musik erneut Getränke fassen, rauchen, pippi, plaudern.
Mittlerweile war es Viertel nach elf. Die ersten hatten erneut Hunger und schnappten sich ein paar Magendratzerl vom Buffet.
Irgendwann um Viertel vor Mitternacht ging es weiter: Dieses Mal stiegen wir gleich mit dem Lesen ein [der Zeitablauf war wohl durch die langen Plauderpausen etwas aus dem Takt geraten, was jedoch keine[n] der Anwesenden wirklich störte. Eher im Gegenteil].
Während wieder die andere vor mir las und ich so gar nicht ihrer – wirklich sehr langen [Krokodils langen] Geschichte von einer Viertel Stunde – zuzuhören im Stande war. Was gewiss auch an der vorgerückten Stunde lag.
Ich gestehe, ich kämpfte mit Müdigkeit. Hätte gern einen Espresso getrunken. In der letzten Pause. Da keiner serviert wurde, wollte ich nicht diejenige sein, welche das Kaffeefass aufmacht, denn eigentlich wäre es ein leichtes gewesen, sich in der gegenüberliegenden Küche an dem wunderbaren Kaffeevollautomaten zu bedienen. Doch meine gute Kinderstube aus anno-dazumal-Zeiten hielt mich ab....
Sie kennen das ja, liebe Leser.
Hält bei so einem Anlass, zu vorgerückter Stunde, einer ein Tässchen duftenden Espresso in der Hand, wollen alle….
Und ich wollte mir gewiss nicht den Zorn der Gastgeberin zuziehen, weil sie hätte dann ja höchst selbst ihre Kaffeemaschine zu bedienen gehabt.
So verzichtete ich um den Preis, dass mir die Augenlider schwer wurden und mein Blick das Weite suchte. Das Weite der stockfinsteren Nacht, die sich zu meiner Rechten auftat, wenn ich über die Köpfe derer, die vor der langen Fensterfront saßen, hinweg blickte, auf die kleinen leuchtenden Pünktchen, die sich vom rechten oberen Fensterrand über sieben, acht Meter zum linken oberen Fensterrand hinweg bewegten. Autos in der Ferne. Vermutlich auf der A8. Von Stuttgart nach München fahrend. Wie in Zeitlupe.
Irgendwann nach dieser Viertelstunde, die mir eher wie eine Stunde vorkam, erhoben sich nochmals die beiden Musiker und geigten uns wirklich einen, der mich umhaute, einen Erwin Schulhoff-Tango… und da war ich dann wieder blitzwach
„Was soll man danach noch groß vorlesen!? Eigentlich wär` das ein schöner Abschluss gewesen“ fand ich.
Indes ich hatte nicht mit der Hartnäckigkeit dieses Kreises gerechnet. Nein, eine schöne, gruselige Gute-Nacht-Geschichte sollte es noch sein.
„Bitteschön, wenn Du so eine dabei hättest…?“ fragte die Gastgeberin mich erwartungsfroh.
„Hm….“ Das hatte ich eigentlich nicht.
Jedenfalls nicht geübt. Zu lesen. Vorzutragen.
Andererseits.
Ich hab doch immer mein Notköfferchen mit den Texten dabei, weil - Sie, liebe Leser, erinnern sich, was ich samstags schrieb, mich nicht entscheiden konnte - und ich es hasse, meinen Textordner auseinander zu reißen und hinterher die Texte wieder ordentlich zurück zu sortieren.
Also holte ich heraus…
Meinen Text über den Hiasl und die Schratzerln, meinen Text über die Raunächt`, die alsbald wieder beginnen…
Natürlich keine eins dreissig.
"Doch, wer eine gefühlte Lesestunde nach Mitternacht ausharrt, wird auch noch eine gefühlte Viertelstunde sich gruseln können" dachte ich mir, bevor ich mit dem Text in der Hand zum Sofa schritt.
Fünfundzwanzig Augenpaare funkelten mich hinterher aus dem halb abgedunkelten Raum an. Da wusste ich, dass ich richtig lag. Mit meiner Vor.Les.[e].ung.
*
Dass es spät war, bis ich in jener Nacht, in den frühen Morgenstunden wieder zurück am heimischen Neckarstrand war, erübrigt sich, breit auszuführen...
Dass es noch ein atonales Sonatenstück von John Cage als musikalischen Abschluss des Abends gab, das wollte ich Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, der Sie bis hierhin durchgehalten und dies gelesen haben, nicht vorenthalten….
Four minutes and thirty three seconds… dauerte das Stück….
Fast solange wie meine Waldprophetengeschichte...
Hören Sie selbst.... ;-)
Teresa HzW - 15. Nov, 14:42 - Rubrik Nachtkantine
in höchstem maße überraschend jedoch war für mich der John Cage.
sie wissen, bei mir endet die ernstzunehmende musik mit Richard Strauss, und als bösartiger mensch möchte ich anmerken, dass der musik ein sehr viel größerer dienst erwiesen worden wäre, hätten andere "moderne" komponisten in gleicher art und weise komponiert ...
leider aber bevölkern zu viele ohrenverletzende kakophonien die gefielde der musik.
gott sei´s geklagt ... :-) ...
@Bubi40
Ja, ich war auch ganz erstaunt wegen des John Cage, v.a. weil ich erst dachte, dass geht doch nicht, diese 12-Ton-Musik zu vorgerückter Stunde. Aber irgendwie hat es doch gepasst, abschließend nach meiner schrägen, walderdigen Gruselstory. Quasi wie durch choreografiert war das, obwohl wir das nicht abgesprochen hatten.
Es passte, weil die ungewohnten Violinenklänge sich anhörten, als fahrten alle Waldhexen und Waldgeister, die sich über dem Kaminfeuer während meiner Lesung angesammelt hatten, klagend und heulend gemeinsam zum Kamin hinaus ins nächtliche Dunkel.
Wie sagte der Improvisationskünstler einmal selbst über sich: "Sie müssen es nicht Musik nennen, wenn Sie der Begriff stört."
;-)