Im Bistro - dans le café... Rayuela V

Eine ganze Weile beobachtet er sie schon, wie sie da sitzt, mit übereinander geschlagenen Beinen, zurückgelehnt in den braunen Bistrostuhl, den Blick in die Ferne gerichtet. Sie war nach ihm gekommen, hatte zunächst die Tafel links vom Eingang studiert, die Tafel, an die sie im „Blauen Engel“ mit Kreide die „Special Meals“ für den Mittag schrieben:
  • Sommersalat mit Putenbrust-Streifen
    Überbackene Putenbrust im Reisrand auf Zucchinigemüse
    Putenbrust grillée mit Salat an Chili-Himbeeren
In der Nähe des Café-Bistroeingangs nahm sie Platz, halb schräg vor ihm. Er hatte sie, mit ihrer rechten Seite vor sich sitzend, direkt im Blick. Es dauerte nicht lang, da kam das Wasser, „de l`eau plat“, wie er sich hatte denken können. Kurz darauf ein Viertel Weisswein. Welchen? Er wusste es nicht. Er tippte auf den Hauswein, da der Garcon ihr keine offene Flasche zum Goutieren offerierte.

Er sah gleich, dass sie es dabei hatte. Sie hatte es als eine der ersten Utensilien auf den Tisch gelegt, als die Getränke serviert waren: RAYUELA, sein Buch! SEIN... wie viele Jahre war das schon her?
„Ahh, Madame, pardon, wenn ich Sie störe, Sie lesen Rayuela?“
„Oui, kennen Sie es?“
„Naturellement, wie gefällt es Ihnen?“, er kann sein Schmunzeln nicht verbergen.
„Très bien, sehr interessant, ich habe erst angefangen, es zu lesen“, fügt sie hinzu und lächelt ihn an: „es überrascht, bringt mich ins Nachdenken, entzündet ein Feuerwerk an Gedanken. Daher kann ich nie viel lesen...“
„Ah… c`est trop“, ein unerklärliches Entzücken breitet sich auf seinem Gesicht aus, das sie sich nicht erklären kann.
„Welch poetische Worte Sie wählen! Ein „Feuerwerk an Gedanken“… das hat noch keine gesagt!“
„…jedoch ich weiß nicht, welche Rolle die Frauen in dem Buch spielen … die Maga, die Babs, die Talita… sie sind so undurchsichtig, diese Frauen…“, fährt sie fort, hält jedoch abrupt inne und dreht ihren Kopf zu ihm hinüber „da Sie es ebenfalls zu kennen scheinen, was ist Ihr Eindruck?“
„Verehrteste, wenn ich mich zu Ihnen an den Tisch setzen darf…“ hebt er an, den Satz nicht zu Ende bringend.
„Mais, naturellement, kommen Sie, setzen Sie sich zu mir“, sie schiebt mit einer Hand die auf dem Tisch liegenden Utensilien zusammen und winkt ihn heran.
„Stört es Sie, wenn ich rauche?“ fragt er, während er mit seinem Glas Apérol in der Hand auf dem Stuhl neben ihr Platz nimmt.
„Solange Sie nicht den Rauch in meine Richtung pusten“, erwidert sie lächelnd und zückt ihre Henkeltasche, aus der sie eine Packung Cigarillos zieht.
„Café Crème? Flavoured où nature?“, fragt er sie.
„Avec Vanilla Honeyswirl.“
„Ah, Sie wissen, was gut ist“
„Oui, Monsieur! Jedoch, ich rauche nicht.“
Erstaunt zieht er eine seiner beiden buschigen Augenbrauen hoch.
„Nur manchmal, aus Genuss, Monsieur, bei passendem Ambiente.“
„Wie lesen Sie Rayuela?“, fragt er, da er die Unterredung in eine andere Richtung bringen will.
„Kreuz und quer, nicht nach einer der angegebenen Arten. Das Gedankenfeuerwerk bringt mich mal hier mal dorthin. Und Sie, wie sind Sie vorgegangen, als Sie es das erste Mal lasen… oder lesen Sie es etwa gerade?“

Er lächelt. „Typisch Frau“, denkt er sich. Er wartet ab, bis sie einmal Luft holt, dann erwidert er:
„Beim ersten Mal, das ist… Moment, lassen Sie mich überlegen…“, er tut so, als ob er nachrechnete, dabei will er nur etwas Zeit gewinnen, um in Ruhe ihr Gesicht erkunden zu können, ihr direkt in die Augen blicken zu können…

„Ahhh… diese Franzosen“, denkt sie sich, „diese Charmeure. Was für braune Augen der hat. Wie… „ Sie wagt es nicht den Gedanken, der durch ihr Gehirn blitzt, weiter zu spinnen. Diese buschigen Brauen. Und für einen Mann seines Alters erstaunlich viel Kopfhaar. Irgendwie kommt er ihr bekannt vor. „Das Gesicht habe ich schon irgendwo gesehen. Nur wo? Wann?“ überlegt sie still für sich.

„1962. 1962 auf argentinisch“, hört sie ihn sagen.
„Sie scherzen, Monsieur. Auf argentinisch? In der Originalausgabe!“, sie ist sichtlich beeindruckt, was ihm gefällt. SO gefällt ihm das.
„Ja, Madame, zunächst linear, also von Kapitel eins bis Ende, Kapitel 56. Dann habe ich die anderen Kapitel…“

„Madam, die Putenbrust grillée, c`est pour vous?“, unterbricht ihn der Oberkellner, der mit einer eleganten Handbewegung den Teller an seiner Nase vorbei führend, vor ihr abstellt.
„Sie haben sich umgesetzt, Monsieur, le Co…“
„Ah oui, oui, oui“, unterbricht er ihn schnell und hebt entschuldigend die Hände. „hoffentlich macht Ihnen das keine Umstände… wegen der Bonnierung?“
„Non. Non. N`a pas de problème“, versichert der Garcon, „haben Sie auch noch einen Wunsch von unserer Mittagstafel? Mais - die überbackene Putenbrust - c`est fini.“
„Bringen Sie mir noch einen Apérol und ein kleines argentinisches Rinderfilet avec des frites“
„Tout de suite, Monsieur.“

„Welches Kapitel hat Ihnen bisher am besten gefallen, Madame“, wendet er sich wieder ihr zu.
„Ich habe erst ein paar Kapitel gelesen: 21, 79, 10, 11, 22, 23, 5, 81, 74… eben wollte ich anfangen, Kapitel 124 und 128 sowie 24 und 134 zu lesen…“
„Das meiste sehr kurze Kapitelchen, jedoch ich wollte sie nicht unterbrechen, welches von den bisher gelesenen fanden sie am interessantesten?“
„Eigentlich gefallen mir alle!“, erwidert sie, bevor sie sich ein Häppchen Putenbrust, auf das sie vorsichtig zwei Himbeeren packt, in den Mund schiebt.

Als sie ihren Mund öffnete, konnte er erkennen, dass ihn ein Dutzend elfenbeinfarbene tadellose Zähne für den Bruchteil einer Sekunde anblitzten. Bevor sich ihr oval geschwungener Mund wieder schloss. Während sie kaute, schwieg er. Er hätte es als unhöflich empfunden, nun zu sprechen, oder sie zum Sprechen zu nötigen. Er studierte lieber wieder ihr Gesicht, die Lippen, die gleichmäßig oval geschwungen waren, nicht zu dick-wulstig, auch nicht zu schmallippig waren. Er hasste es, wenn Frauen, die ihm gefielen, dicke Negerlippen hatten, die entstanden, wenn sie es in ihren Genen trugen. Dann konnten sie nichts dafür, dann mussten sie es hinnehmen, er auch, damit leben. Jedoch es gab noch jene anderen, die ihm immer häufiger begegneten und die immer jünger wurden. So schien es ihm. Immer häufiger begegneten ihm diese Botox gespritzten Lippen, zum Teil schon bei unter Dreißig Jährigen. Er sah es sofort, wenn einer Frau Botox gespritzt war. Diese Unterlippe, die sich dann vorwölbte, quasi als wolle sie sich abschälen vom Rest des Gesichts. Wie eine vorgewölbte Balkonette sah das aus. Wie er das hasste. Vor allem, wenn sich gleichzeitig die Oberlippe nach oben aufplusterte, so wie bei einem schmalen Luftballon, der zu stark aufgeblasen worden war. Er hatte immer Sorge, dass diese über ihre normalen Maße hinaus aufgeblähte Oberlippe demnächst zu platzen drohte. Solche Frauen wagte er nie zu küssen. Sie waren ihm nicht geheuer. Er dachte, wenn sich seine Oberlippe, die ein schmales Bärtchen zierte, jener wulstigen Oberlippe nähern würde… und eines seiner Barthaare… und sein Oberlippenbart hatte sehr feste, um nicht zu sagen, harte stachelige Haare, auch wenn sie nur einen Zentimeter lang waren, aber sie waren fein und spitz und stachelig, wie die seines Großvaters. Er hatte diesen Bartwuchs von seinem Großvater geerbt. Niemand in der Familie bei den männlichen Nachkommen hatte solche Barthaare, aber er… er hatte sie geerbt. Wenn also eines dieser stacheligen Barthaare in einem ungünstigen Winkel stehend, weil etwas widerborstig, nun ausgerechnet beim zarten Touchieren der weiblichen Oberlippe aus der Reihe tanzend, jene zum Platzen bringen würde. Ja, was dann? ….ergösse sich das ganze Botox-Blut-Gemisch über seine Oberlippe? In seinen Unterkiefer hinein? Und tropfte dabei noch auf sein edles Seidenhemd.
Ein Gedanke, der ihn erschauern ließ, und den er sich jedes Mal aufs Neue ausmalte, vor allem, wenn er einer mit Wulstlippen begegnete. Doch dieses Mal war es anders. Er war sehr erleichtert. Er seufzte.

„Sie haben gewiss Hunger!“, riss sie ihn aus seinen Schauergedanken, während sie das letzte Stück Putenbrust auf ihre Gabel spießte.
„Ca va. Es geht.“
„Ich glaube, da kommt schon ihr Steak“.

Während tatsächlich der Oberkellner in derselben galanten Weise das argentinische Rinderfilet auf ihn einschwenkt, gabelt sie die letzte Himbeere auf.
„War es zu Ihrer Zufriedenheit, Madame“, fragt mit einer eleganten angedeuteten Verbeugung der Garcon, und entzieht ihr den leeren Teller, den nur noch ein Salatblatt krönt, auf dem zuvor die Putenbrust gelegen.
„Oui, c`etait très bien!“, lächelt sie ihn an.
„Wieder dieses bezaubernde Lächeln“, denkt er sich, während er ein Stückchen von seinem Filet absäbelt.

„accordé.. accordé…acordéon…lalalalalalalalalalalala….accordé.. accordé… accordéon…..“, ein Akkordeon-Spieler biegt um die Ecke und nähert sich singend und seine Quetsche auf- und niederziehend ihrem Tisch.

„Ist das nicht Juliette Gréco? Das Lied, mit dem sie berühmt wurde?“, fragt sie entzückt. „Wo haben Sie damals gelebt, Monsieur, als sie Rayuela das erste Mal lasen?“
„In Paris“, bringt er zwischen dem Fleischstück, das er sich zwischen den Backen kauend hin- und her schiebt, noch heraus.
„Ohh“ sie mustert ihn, „dann kennen sie am Ende diesen Club?“
„Welchen?“
„Na, das Tabou, der Salon der Gréco?“
„Mmhhmm…“
„Ach, wie unhöflich von mir, ich sollte Sie erst in Ruhe essen lassen, bevor wir uns weiter unterhalten“, sagt sie, „ich werde unterdessen der Musik lauschen.“
1669 mal gelesen

"1962 auf argentinisch"

Einfach großartig!

"Preferíamos encontrarnos en el puente, en la terraza de un café, en un cine-club o agachados junto a un gato en cualquier patio del barrio latino." S. 15, Zeile 28

Teresa HzW - 8. Sep, 23:18

Gewiss ein ganz besonderer Reiz, das Buch in ORIGINAL-Sprache zu lesen, wenn man des Argentinischen mächtig ;-)

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