Montauk IV – Auf Long Island – 2011-1974

Das letzte Lebenszeichen von Shannon stammt aus dem Mai vorigen Jahres. Aufgelöst und verstört hatte die 24-jährige nach einem Kundenbesuch die Polizei angerufen.

"Ich hatte W. noch nie so gesehen: Ein Mann! Nicht dass er der Frau, die etwas irritiert war, wie alle den Hof machte; W. besichtigte sie bloß, während sie zu sprechen versuchte."

Das letzte Lebenszeichen.

OVERLOOK. Das Schild hat versprochen, was es hier nicht gibt. Es fällt ihm ein, dass niemand weiß, wo er sich an diesem Tag befindet. Auch wenn sie nicht mehr glauben, dass dieser Pfad je zur Küste führt, gehen sie: um nicht zu stehen in diesem Gestrüpp und Gebüsch, wo niemand sie sieht.

Mit Spürhunden durchkämmen Suchtrupps der Polizei die um diese Jahreszeit noch einsame Gegend zwischen Oak und Gilgo Beach, die zur Gemeinde Babylon gehören. Sie liegt fast in der Mitte von Long Island; das Naherholungsgebiet der New Yorker, das sich gegenüber von Manhattan in östlicher Richtung beinahe 200 Kilometer weit in den nördlichen Atlantik erstreckt.

Wer die beiden sähe, würde nicht ohne weiteres wissen, was von Ihnen zu halten ist: Tochter und Vater oder ein Paar? In der Ferne ein fahrendes Auto auf dem Highway: lautlos.

Die lange Insel ist etwa so groß wie Mallorca und an der breitesten Stelle gerade mal 37 Kilometer breit. Im Westen ist die Insel mit den Stadtteilen Brooklyn und Queens dicht besiedelt. Der östliche Inselteil besticht durch seinen ländlichen Charme und gilt als Sommerfrische der Schönen und Reichen von New York, berühmt sind die Sandstrände der Hamptons.

Man hört Vögel; kein Vogellied; ein gezwitscherter Alarm.

Shannons Familie durchleidet ein Wechselbad der Gefühle.
"In meinen Tagträumen sehe ich sie durch die Tür kommen", schluchzt ihre Schwester. Fröhlich schwinge sie die Arme und rufe: "Hi! Ich wurde gekidnappt, aber mir geht’s gut."

Wieder denkt er daran, dass niemand (weder in New York noch in Berlin) vermuten kann, wo sie zu dieser Stunde sich befinden. Sie sind unerreichbar. Das haben sie gemeinsam.

Die Fahnder durchkämmen erneut das dichte Unterholz der Dünen auf der langgestreckten Landzunge am Atlantikstrand auf der Suche nach Shannon.

Einmal eine Coca-Cola-Dose im Gras; also sind sie nicht die ersten Menschen hier.

In Leinensäcken verschnürt. Achtlos weggeworfen. Wie Müll, der während der Fahrt entsorgt wird. In die windzerzausten Büsche. Entlang der Strandstraße. Vier Frauenleichen.
Den grausigen Fund machte die Polizei bereits im Dezember.

…wenn aber jemand in sämtlichen Hotels der Insel anruft: nicht einmal ihr Vorname ist eingetragen, nur sein Name, und niemand vermutet die beiden zusammen.

Kürzlich, Ende März, fand die Polizei eine fünfte Frauenleiche.

Sie küssen einander nicht…. der Knoten ihres Haares gelöst, ihr rotes Haar (Hagebuttenrot….) fällt jetzt offen über ihren Rücken…

Zwischen Mitte und Ende Dreissig. Drei Frauenkörper. Tot aufgefunden. Im Gestrüpp. Vor wenigen Tagen.

Sie bleibt stehen, um wieder diesen Knoten zu machen….Dann fällt ihr neuerdings der Knoten auseinander…

Auf der Langen Insel, wie Long Island zu deutsch heißt, geht jetzt die Angst vor dem Serienkiller um.

…ihre Haut… die blasse Haut der Rothaarigen; ohne Sommersprossen.

Es sind die Schönen und Reichen, die sich hier gerne von den Strapazen des Show Biz und der Millionenstadt erholen. Schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts zog es die Industriellen hierher. Auf der Nordseite errichteten sie ihre Villen.

Er lehnt an die Mauer… versucht, sich an ihre Stimme zu erinnern. Wenn sie anruft sagt sie bloß: "Hi!"
2181 mal gelesen
Teresa HzW - 10. Apr, 11:39

Montauk IV [post]modern collag[i]e[rt] von Teresa:
1. in kursiver Schrift: Max Frisch, Montauk, in Suhrkamp Quarto-Sammlung, Seiten 1553-1555
Blogartikel wurde collagiert in Anlehnung an nachfolgenden Artikel(=2.) über einen Serienkiller, der seit Monaten sein Unwesen auf Long Island treibt:
2. "Polizei sucht Vermisste und findet Leiche um Leiche", Stuttgarter Nachrichten, Printausgabe vom 7.4.2011, Seite 12.

Margit (Gast) - 12. Apr, 21:20

Der Buecherblogger (Gast) - 11. Apr, 17:36

Mon-Talk

Max Frisch, Tagebuch 1971: NEW YORK, März

"Man erwacht, geht auf die Straße und überlebt. Das macht fröhlich, fast übermütig. Es braucht nichts besonderes vorzufallen; es genügt die Tatsache, daß man überlebt von Alltag zu Alltag. Irgendwo wird gemordet, und wir stehen in einer Galerie, begeistert oder nicht, aber gegenwärtig, und es ist nicht gelogen, wenn ich antworte: THANK YOU, I AM FINE!

...

"Nicht einmal Todesfälle im Dorf."

...

"Bäume grünen in den Höfen, Bäume wie richtige Bäume, man schaut hinunter auf ihr grünes Laub nicht ohne Rührung: diese
Tapferkeit des Chlorophylls!
________________________________
vgl. Montauk 1974! S. 4 oder 5:

"Die kleinen Bäume in der Neunten Straße, seinerzeits gepflanzt, sind nach wie vor dünn und dürftig; sie grünen aber, (Diese Tapferkeit des Chlorophylls!)"

Frisch zitiert drei Jahre später sein eigenes Tagebuch in einer Erzählung! Dennoch ist das Ich des Tagebuchs und das Ich in "Montauk" nicht identisch mit Max Frisch...

Teresa HzW - 15. Apr, 18:07

@Bücherblogger - Mon-Talk

Montalk - das wäre eigentlich der passende Titel für mein Lese-Experiment [gewesen], lieber Bücherblogger. Ich sehe schon, es lohnte sich - irgendwann in der nächsten Zeit [vielleicht, wenn Frisch`s Mon-Tauk zu Ende gelesen] - vertiefend in eine Diskussion über die verschiedenen Identitäten von Autor, Erzähler, Protagonist im Werk von Max Frisch einzusteigen :-O

Die Hinweise auf seine Tagebucheinträge drei Jahre zuvor fand ich sehr aufschlussreich!
Herzlichen Dank für diese Bereicherung!
Herzlich
Teresa
Jossele - 15. Apr, 19:52

Verstörend nah am Leben, leider.

Teresa HzW - 18. Apr, 12:29

@Jossele

ohja, lieber Jossele, das eine wie das andere :-o

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