Montauk V – Flo[a]h[ting]
Mittlerweile, nach neun Tagen Max-Frisch-Lese-Experiment, habe ich mein Lese-Tempo gefunden. Es dauerte eine Weile bis ich den Dreißig-Minuten-Rhythmus fand, wie beim Beginn eines Lauftrainings nach einem langen, kalten Winter.
Dreißig Minuten sind auf die Sekunde genau schwer ein zu halten. Manchmal schaffe ich die Punktlandung, meist sind es weniger, manchmal mehr Minuten, die meine "Lesung" dauert. Je nachdem, was sonst noch in meinem Weinberg [des Lebens] anliegt.
Mein Eindruck: Das Lesen passt sich zudem den Schreibtempi des Autors an. Lande ich nach neunundzwanzig Minuten in einem Textabschnitt, der noch drei, vier oder mehr Seiten hat, lese ich diese Seiten mit oder lasse es [weil etwa jemand aus dem Weinberg ruft].
Das Schöne und Bequeme an Montauk: Aufgrund des Tagebuch ähnlichen Erzählstils kann ein[e] Leser[in] an jeder beliebigen Stelle das Lesen unterbrechen und wieder fortsetzen; kann Wort für Wort genießen und ganze Sätze auf der Zunge zergehen lassen oder über manche Passage, die einem zu banal oder langatmig erscheint, hinweg hüpfen wie ein Floh.
Mittlerweile habe ich beinahe die Hälfte gelesen und fasse einmal das bisherige Geschehen zusammen:
In Montauk wird die Liebesgeschichte zwischen Max, 63 Jahre alt, Schriftsteller und Lynn, 31, Verlagsangestellte geschildert.
"Ich möchte… beschreiben....unser Wochenende [auf Montauk, Long Island, bei New York] und wie`s dazu gekommen ist, wie es weiter verläuft. Ich möchte erzählen können, ohne irgend etwas dabei zu erfinden. Eine einfältige Erzähler-Position", schreibt Max Frisch dazu auf Seite 1572 in der Suhrkamp-Quarto-Ausgabe
"Warum grad dieses Wochenende [um den 11. Mai 1974]?", fragt er sich selbst, denn "das Wochenende davor wäre sonnig gewesen." So erleben die beiden Verliebten ein Wochenende mit sehr wechselhaftem Wetter, an dem Regen, Wind und Sonne einander abwechseln; vielleicht wie im wahren Leben einer Liebesgeschichte?
Wer weiß, was die Tagebuch-Erzählung noch an den Tag bringen wird. Ist Montauk nur eine Station im Leben des Erzählers? Den Eindruck erweckt die Erzählung im jetzigen Lese-Stadium.
Max Frisch befindet sich im April 1974 auf einer Lesereise durch die USA und Kanada; am 8.4. in New York, 17.4. Toronto, 18.4. Montreal, 19.4. Boston, 22.4. Cincinnati, 23.4. Chicago, 25.4. Washington.
Dazu hält er fest: "Ich spiele meine Rolle. Nur im Flugzeug und im Hotel, wo die Veranstalter mich unterbringen, bin ich eine Weile allein und brauche nichts zu glauben, nehme Dusche oder Bad, dann stehe ich am Fenster, Blick auf eine andere Stadt. Ein wenig Lampenfieber jedesmal. Beim Lesen vergesse ich Wort für Wort, was ich lese." Sein Protagonist [der echte Max Frisch? Oder sein Alter Ego?] begegnet Lynn in New York bei einem Fotoshooting.
In der Tagebuch-Erzählung schildert Frisch den zarten Beginn der Liebe. In die Erzählung über das Liebeswochenende wirft er zwischendurch immer wieder einen kritischen Blick auf sich, sein bisheriges Leben und die Personen, denen er begegnete: Beispielsweise W., einen Lebensfreund, über den der Erzähler zu Beginn seiner Erinnerungen voller Bewunderung spricht, an deren Ende er sich jedoch als Lebenslügner entlarvt.
Ein anderes Erinnerungsfragment widmet er Thesy, einer Schulkameradin, die er früher hänselte. Zwischenzeitlich ist sie an einer Lähmung erkrankt und seit Jahren bettlägerig. Er zieht in den 1950er Jahren in das gleiche Mietshaus. Obwohl sie über ihm wohnt, schafft er es in all den Mietjahren nicht, sie öfters als einmal zu besuchen.
In diesen eingestreuten Rückblicken arbeitet der Erzähler Max Frisch Momente und Begegnungen, Erlebnisse und Eindrücke aus der Vergangenheit auf. Er streift in kurzen Gedanken philosophische Lebensfragen wie "das Verhältnis von Erfolg und Ruhm", schiebt kleine Monologe über wichtige Lebensereignisse wie "Heirat, Geburt und Verhältnis zu den Kindern oder Scheidung" ein: "Als ich zum ersten Mal geheiratet habe... I got married twice", erzählt er Lynn und damit erfährt es auch der Leser, dass er genau 31 Jahre alt war. "Exactly your age", sagt er zu Lynn. Oder er drückt in Stichworten seine Impressionen zu besonderen Erfahrungen wie etwa dem "Fliegen in der ersten Klasse" aus: "Es lohnt sich, einmal in der Ersten Klasse zu fliegen; neben mir ein jüngerer Fluggast, der, wie sich herausstellt beim Champagner, mit Bomben handelt."
2664 mal gelesen
Dreißig Minuten sind auf die Sekunde genau schwer ein zu halten. Manchmal schaffe ich die Punktlandung, meist sind es weniger, manchmal mehr Minuten, die meine "Lesung" dauert. Je nachdem, was sonst noch in meinem Weinberg [des Lebens] anliegt.
Mein Eindruck: Das Lesen passt sich zudem den Schreibtempi des Autors an. Lande ich nach neunundzwanzig Minuten in einem Textabschnitt, der noch drei, vier oder mehr Seiten hat, lese ich diese Seiten mit oder lasse es [weil etwa jemand aus dem Weinberg ruft].
Das Schöne und Bequeme an Montauk: Aufgrund des Tagebuch ähnlichen Erzählstils kann ein[e] Leser[in] an jeder beliebigen Stelle das Lesen unterbrechen und wieder fortsetzen; kann Wort für Wort genießen und ganze Sätze auf der Zunge zergehen lassen oder über manche Passage, die einem zu banal oder langatmig erscheint, hinweg hüpfen wie ein Floh.
Mittlerweile habe ich beinahe die Hälfte gelesen und fasse einmal das bisherige Geschehen zusammen:
In Montauk wird die Liebesgeschichte zwischen Max, 63 Jahre alt, Schriftsteller und Lynn, 31, Verlagsangestellte geschildert.
"Ich möchte… beschreiben....unser Wochenende [auf Montauk, Long Island, bei New York] und wie`s dazu gekommen ist, wie es weiter verläuft. Ich möchte erzählen können, ohne irgend etwas dabei zu erfinden. Eine einfältige Erzähler-Position", schreibt Max Frisch dazu auf Seite 1572 in der Suhrkamp-Quarto-Ausgabe
"Warum grad dieses Wochenende [um den 11. Mai 1974]?", fragt er sich selbst, denn "das Wochenende davor wäre sonnig gewesen." So erleben die beiden Verliebten ein Wochenende mit sehr wechselhaftem Wetter, an dem Regen, Wind und Sonne einander abwechseln; vielleicht wie im wahren Leben einer Liebesgeschichte?
Wer weiß, was die Tagebuch-Erzählung noch an den Tag bringen wird. Ist Montauk nur eine Station im Leben des Erzählers? Den Eindruck erweckt die Erzählung im jetzigen Lese-Stadium.
Max Frisch befindet sich im April 1974 auf einer Lesereise durch die USA und Kanada; am 8.4. in New York, 17.4. Toronto, 18.4. Montreal, 19.4. Boston, 22.4. Cincinnati, 23.4. Chicago, 25.4. Washington.
Dazu hält er fest: "Ich spiele meine Rolle. Nur im Flugzeug und im Hotel, wo die Veranstalter mich unterbringen, bin ich eine Weile allein und brauche nichts zu glauben, nehme Dusche oder Bad, dann stehe ich am Fenster, Blick auf eine andere Stadt. Ein wenig Lampenfieber jedesmal. Beim Lesen vergesse ich Wort für Wort, was ich lese." Sein Protagonist [der echte Max Frisch? Oder sein Alter Ego?] begegnet Lynn in New York bei einem Fotoshooting.
In der Tagebuch-Erzählung schildert Frisch den zarten Beginn der Liebe. In die Erzählung über das Liebeswochenende wirft er zwischendurch immer wieder einen kritischen Blick auf sich, sein bisheriges Leben und die Personen, denen er begegnete: Beispielsweise W., einen Lebensfreund, über den der Erzähler zu Beginn seiner Erinnerungen voller Bewunderung spricht, an deren Ende er sich jedoch als Lebenslügner entlarvt.
Ein anderes Erinnerungsfragment widmet er Thesy, einer Schulkameradin, die er früher hänselte. Zwischenzeitlich ist sie an einer Lähmung erkrankt und seit Jahren bettlägerig. Er zieht in den 1950er Jahren in das gleiche Mietshaus. Obwohl sie über ihm wohnt, schafft er es in all den Mietjahren nicht, sie öfters als einmal zu besuchen.
In diesen eingestreuten Rückblicken arbeitet der Erzähler Max Frisch Momente und Begegnungen, Erlebnisse und Eindrücke aus der Vergangenheit auf. Er streift in kurzen Gedanken philosophische Lebensfragen wie "das Verhältnis von Erfolg und Ruhm", schiebt kleine Monologe über wichtige Lebensereignisse wie "Heirat, Geburt und Verhältnis zu den Kindern oder Scheidung" ein: "Als ich zum ersten Mal geheiratet habe... I got married twice", erzählt er Lynn und damit erfährt es auch der Leser, dass er genau 31 Jahre alt war. "Exactly your age", sagt er zu Lynn. Oder er drückt in Stichworten seine Impressionen zu besonderen Erfahrungen wie etwa dem "Fliegen in der ersten Klasse" aus: "Es lohnt sich, einmal in der Ersten Klasse zu fliegen; neben mir ein jüngerer Fluggast, der, wie sich herausstellt beim Champagner, mit Bomben handelt."
Teresa HzW - 12. Apr, 19:41 - Rubrik [Post]Moderne
Erinnerungsfragment W.
DANKBARKEITEN
Keine Instanz verlangt jährlich oder zweijährlich (wie die Steuerbehörde) eine Liste der Dankbarkeiten... Gestern auf der Straße habe ich von fern einen Mann gesehen, dem ich viel zu verdanken habe, sogar sehr viel. Es ist zwar lange her. Er scheint es zu wissen, daß ich ein Gefühl der Dankbarkeit nie loswerde; Gefühl ist es eigentlich nicht mehr, aber Bewußtsein. Lebenslänglich. Hingegen hatte ich das Gefühl, er habe mich vorher schon erkannt, aber er ging weiter, tat, als habe er mich nicht gesehen. Was soll er mit meinem Bewußtsein von Dankbarkeit? Ich hätte ihm gerade noch nachlaufen können, tat es nicht und war betroffen, daß ich es nicht tat. Er hat nicht allein mein Studium der Architektur ermöglicht; Schopenhauer, Mozart, Nietzsche, Psychologie, Riemenschneider, Oswald Spengler, Bruckner, Khmer-Kunst und so vieles verdanke ich diesem Mann, auch das Engadin. Seine Anzüge allerdings, Mäntel, alle noch in gutem Zustand, wenn er sie dem Freund vermachte, waren immer etwas zu groß, vorallem die Ärmel zu lang... Gäbe es eine Instanz, die eine Liste der Dankbarkeiten binnen einer Woche verlangt, so würde ich ferner auf die Liste setzen:
a.
die Mutter
b.
die Tatsache, daß ich sehr früh einem jüdischen Menschen begegnet bin, einem sehr deutsch-jüdischen
c.
der frühe Tod des Vaters
d.
die Erfahrung der praktischen Armut
e.
daß ich nicht nach Stalingrad befohlen worden bin oder in die Reichsschrifttumkammer
f.
eine leichtsinnige Gesundheit
g.
die Begegnung mit Peter Suhrkamp
h.
die Begegnung mit Brecht
i.
daß ich Kinder habe
k.
daß ich die Germanistik aufgegeben habe
l.
alle Frauen, ja, eigentlich alle
...
Frisch`s Arbeitsweise
wie ich zwischenzeitlich aus einem anderen Büchlein* erfahren habe, war das die typische Arbeitsweise von Max Frisch. Die Aufzeichnungen in seinen Tagebüchern - wie der von Ihnen zitierte, lieber Bücherblogger - waren immer Frisch`s Grundlage für die spätere Aufarbeitung:
"Am Tag ihrer Entstehung hat er die Passagen oft nur flüchtig memoriert. Genau wie beim Schreiben fiktionaler Prosa dient[e ihm] die zweite Arbeitsphase der Gestaltung, der Schaffung einer textimmanenten Wirklichkeit, die sich vom Erlebten und von historisch verbürgten Ereignissen löst. Letztlich bestimmt Frischs Wille zur Form, zur Gesamtkomposition die Auswahl [die er trifft] und die Anordnung der Abschnitte, nicht der Zeitpunkt ihrer Entstehung". *Dies schreibt Jan Bürger im Marbacher Magazin, Nr. 133, auf Seite 52 über die Arbeitsweise von "Max Frisch, Das Tagebuch". Bürgers Essay bezieht sich zwar auf das Tagebuch 1946-1949. Meines Erachtens kann das, was Jan Bürger für dieses erste Tagebuch feststellt, das erstmals im September 1950 im neugegründeten Suhrkampverlag erschien, genauso für alle anderen Tagebuch-Erzählungen von Frisch gelten. Und Montauk ist - auch wenn es zu Frisch`s Spätwerk zählt, ebenso eine Tagebucherzählung.
Herzlich
Teresa