Werden 6




"Namaskaar“ – mit vor dem Gesicht wie zum Gebet gefalteten Händen verbeugt sich der junge Mann, der mir nur bis zu den Schultern reicht.
"Ich grüße den Gott in dir" - lautet diese Grußformel, mit der er jeden Fremden respektvoll in seinem Land begrüßt und ihn in Empfang nimmt.
Die saloppere Form davon - das "Namaste“ - werden wir, die Reisegruppe mit der ich auf einem etwa zwölfstündigen Flug von Stuttgart her gekommen bin, in den folgenden drei Wochen noch oft hören, vor allem von den Kindern. Sie werden sich einen Spaß daraus machen, uns weißen Langnasen hinterher zu laufen und uns mit dieser Grußformel zu plagen. Solange bis einer sich erbarmt und ihnen einen Kugelschreiber, einen bunten Stift, ein Stück Papier oder eine Murmel schenkt.
Zum Akklimatisieren werden wir eine gute Woche in der Hauptstadt auf 1.355 Meter bleiben, um uns an das Klima und die Höhenlage zu gewöhnen. Jeden Tag werden wir rund um das Tal ein Stückchen höher hinauflaufen - vorbei an berühmten Tempelanlagen, hinauf in Klöster, werden uns mit frechen Affen herumschlagen, die uns auf die Schultern springen, wenn wir ihnen zu nahe kommen und werden von den freundlichen Menschen dieser Region mit Tee verwöhnt und uns ans „daal bhaat“ wie auch an die steileren Höhenlagen von dreitausend Meter gewöhnt haben.
Danach werden sich unsere Wege trennen, einige werden nach diesen sieben Tagen bereits direkt ans Meer zum Baden fliegen, andere wird es ins Basislager zum höchsten Gipfel der Welt ziehen. Auch K. und ich wollen aufs Dach der Welt, jedoch zieht es uns allein ohne Reisegruppe ins nordwestliche Gipfelland der Hauptstadt, in die Sagen umwobene Welt der Annapurna.
Da andere Trekker uns vom Überlandbus wegen des vorausgegangen schlechten Wetters in der dortigen Region abgeraten haben, buchen wir kurz entschlossen die zwei Plätze in einer kleinen Twin-Otter. Größere Maschinen können zu diesem Zeitpunkt wegen des schlechten Wetters und der Graspiste am Zielort nicht fliegen.
Es ist eine kleine Maschine, die da einsam und verlassen auf dem Rollfeld steht. Maximal zwölf Sitzplätze. Anscheinend wollen jedoch nur ein halbes Dutzend Menschen außer uns in das entlegene Gebiet fliegen. Beim Einstieg heißt es Kopf einziehen. Innen wird mir mulmig. Ich sehe keine gepolsterten Sitze, sondern nur durchgehangene, fast auf dem Flugzeugboden schleifende Lederriemen. Die erinnern mich an meine alte lederne Kinderschaukel, die im Garten zwischen zwei Obstbäumen hing und auch Risse in der Sitzfläche hatte. Bevor ich weiter nachdenken kann, hat mich ein freundlicher Nepali schon auf den Platz am Fenster geschoben und niedergedrückt. Wie in Schussfahrt auf der Skipiste kauere ich mit angezogenen Beinen auf dem leicht hin- und herschaukelnden Sitz. Danach geht eine Nepali herum und drückt uns Bonbons – für den Druckausgleich wie sich später herausstellen wird - und zwei dicke Wattebäusche in die Hand. Als Lärmschutz. Denn die Twin-Otter wird einen Höllenlärm machen. Bei Ankunft werden wir nach etwa einstündigem Flug trotz Wattebäuschen in der Ohrmuschel fast taub sein. Erst als ich den Gurt von der rechten zur linken Hüfte umgeschnallt habe, werde ich die von der Flugzeugdecke herabhängenden Kabel im Cockpit entdecken. Mir wird schlecht werden. Zum Aussteigen ist es dann zu spät, weil wir bereits auf dem Flugfeld rollen. Wenn Sie den Pegel im Eingangsvideo voll aufdrehen, können Sie erahnen, was für ein Höllenflug uns nun von Kathmandu nach Pokhara bevorstand. Dagegen ist der nun folgende Videomitschnitt [vom Oktober 2010] ein sanfter Himmelsflug.
Für aufsteigende Ängste wird bei uns im November 1991 jedoch keine Zeit sein, weil uns der Blick auf die Achttausender an diesem strahlend blauen Morgen des fünfzehnten November, an dem kein Wölkchen den Himmel trübt, für alles entschädigen wird. Wir fliegen zum Teil ganz nah an schneebedeckten Himalayabergen entlang, können Felswände, Schluchten und Gletscher mit bloßem Auge erkennen. Ein atemberaubender Flug, selbst heute in der Erinnerung nach über zwanzig Jahren.


In Pokhara angekommen, suchen wir uns erst eine Unterkunft, ein kleines Hotel. Nachts werden wir feststellen, dass es keine Heizung gibt. Wir werden so erbärnlich frieren, dass wir zwei Jogginganzüge übereinander anziehen und unsere Daunenschlafsäcke herausholen. Denn zum Zudecken sind seitens des Hotels nur kratzige graue Decken vorhanden, mit denen bei uns im zivilisierten Westen Möbel abgedeckt werden. Allmählich dämmert mir, worauf ich mich da eingelassen. Für ein Zurück ist es zu spät, denn wir haben bereits für den übernächsten Tag einen Guide nebst Sherpa für unser Gepäck organisiert.

Der Blick von der Dachterrasse des einzigen größeren Hotels, damals nahe dem Flughafen, auf die Annapurna ist gigantisch, so wie hier in diesem Video [vom Oktober 2010]






Chandrakot, Ghasa, Lete, Jomosom und schließlich der Wallfahrtsort für Hindus und Buddhisten Muktinath im Königreich Mustang auf 3.800 Meter ist unser Ziel. Bis dahin steht uns eine reine Gehzeit von etwa vierzig Stunden bevor. Spektakuläre Ausblicke warten auf uns: auf die Annapurna-Achttausender und ab Lete ein Höhenweg über die westliche Schulter des Dhaulagiri nach Beni, von wo aus Annapurna I, der erste Achttausender, der je bestiegen wurde, zu sehen ist.
Ferner: Unvergessliche Sonnenuntergänge in Kalopani und Lete. Eine der größten geologischen Formationen der Welt wird [damals noch] uns offen zugänglich sein.
Und schließlich ein weiterer Höhepunkt: die Überquerung des Kali Gandaki, des tiefsten Flusses der Erde [wenn ich mich noch richtig erinnere], auf einer Hängebrücke, wovor mir unendlich graut. Da drüber zu gehen, davor habe ich echt Sch...! Hoffentlich wackelt das nicht zu sehr!

Ein modernes GPS oder Geodaten wie diese Google-Earth-Daten hier, gab es zu unserer Zeit noch nicht. Die Vorstellung war allein in der Phantasie. Lediglich ein Diavortrag Monate zuvor und ein Trekking-Survival-Guide standen uns zur Vorbereitung zur Verfügung, ansonsten mussten wir uns eben ganz auf unsere Nepali-Guides verlassen.





Unvergesslich ist mir der Sonnenaufgang am Poonhill. Von dort hat man einen atemberaubenden Blick auf die Annapurna-Achttausender. Ein schmaler Pfad führte uns nächtens im Schein der Taschenlampen hinauf. Es war eiskalt, der Weg glitschig und es schneite ganz leicht. Oben standen wir ganz allein mit unseren Sherpas und bestaunten das Naturschauspiel der hinter den Gipfeln aufgehenden Sonne, die ihre Sonnenstrahlen Schritt für Schritt über die Bergwände der Achttausender, Siebentausender und Sechstausender herabgleiten ließ: Den Macchapuchhare mit 6997 Meter, den Hiunchuli mit 6441m, die Annapurna-Südwand mit 7219 m, den Dhaulagiri mit 8167m, den Tukche Peak mit 6920 m.

Annapurna, Pokhara, Kathmandu werden mir eine unglaubliche Lebenserfahrung… das spürte ich damals schon vor Ort. Ein Gespür, das auch nach über zwei Jahrzehnten in der Retrospektive immer noch da, besser auf einen Schlag wieder abrufbar ist, wenn ich - wie heute Nachmittag - die Dias aus alten Zeiten betrachte.
Damals [vielleicht heute auch noch?] geisterte ein geflügeltes Wort durch die Trekker-Welt: "Do it before you die!" - Also mach es, geh in den Himalaya, ins Annapurna-Massiv, solange Du lebst.

Für die ganz Hartgesottenen unter Ihnen, liebe Mit-Leser[innen], habe ich noch etwas Besonderes: das nachfolgende Video ;-)
Wem es zu lange ist, der schiebe die Laufleiste bis auf 7Min15 vor... da wirds extrem [klar, wenn das jeder machen tät... ich höre die Umweltschützer schimpfen]... dennoch rein-sehenswert!




Natürlich ist heute alles anders dort: Die Zeit und die Region hat sich weiter entwickelt, wenn auch nicht unbedingt nur zum Positiven. Beispielsweise warnt aktuell das Auswärtige Amt wieder - wegen der aufständischen Maoisten und immer wieder aufflackernder gewaltsamer Demos - allein - wie K. und ich damals - nach Westnepal zu reisen.

Es gäbe noch viele bewegende Geschichten zu jenem Lebens prägenden Reise-Werde-Gang zu erzählen... doch dann scrollen Sie sich hier die Finger wund.....

Daher...
für heute...
...zum Ausklang dieses Werdens ein kleiner Rundflug zur Annapurnakette, von Pokhara aus. Wenn Sie schwindelfrei sind, dann steigen Sie jetzt mit ein und genießen den Viertelstündigen Drachenflug... mit Musik, den ein anderer Nepal- und Himalaya-Fan aufgenommen hat.

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