Zu Falls Phänomen 1

Dass ich nicht an Zufälle glaube, habe ich hier schon öfters kundgetan, meine ich. Jedenfalls war heute wieder so ein Tag der Zufälle, die einem nicht wirklich zu-fallen, eher hinzu fallen. Tage, an denen einem etwas in die Hände fällt, weil es so sein muss, im Sinne von so zu sein hat. Quasi von „höherer Macht“ gesteuert. Oder wie immer eine[r] diese unglaublichen [Zu-]Fälle literarischer Art nennen mag, die einem da[nn] an-heim fallen.

Heute, das Wetter war mit achtzehn Grad, aufkommenden Windböen und schnell über den Himmel ziehenden Wolkenbergen alles andere als spät-sommerlich, eher schon herbstlich, an sommerliche Badefreuden in einem der vielen umliegenden Freibäder oder entfernter liegenden Bagger- oder Waldseen war wieder nicht zu denken. Ein Tag, also, wie geschaffen für einen Stadtbummel, eine Shoppingtour in der nahen Hauptstadt des Kreises. Sie führte zunächst zu einer Stärkung im „Blauen Engel“, einer Lokalität neben der Filmakademie. Dort lässt es sich gut l[o]unchen, im Dunstkreis der jungen [Trick- und Animations-]Film schaffenden Kreativszene, die mit ihren Netbooks und Laptops still beieinander sitzt [nur das Klappern der Tastatur ist zu hören] oder vornüber gebeugt leise ins Gespräch miteinander vertieft ist. Ein Hauch Berlin, der einen dort umweht, auch wegen der noch moderaten Preise der gastronomischen Lokalität.

Mag sein, es waren kreativ geschwängerte Luftschwaden, die mich benebelten und so in ihren Bann zogen, dass ich den Abstecher in einige Läden junger Designerinnen links und rechts des Wegs liegen ließ und mich schnurstracks, wie von Geisterhand gelenkt, über die Mathildenstraße direkt zum Arsenalplatz begab, in den größten heimischen [und noch Inhaber geführten!] Buchladen, in dem nicht nur traditionelle, sondern auch moderne und aufmüpfige Bücher und sogar seltene Kostbarkeiten des Zweitausendeinsverlags zu finden sind. Schon vor ein paar Wochen fiel mir dort ein „Samuel Beckett“ [ich berichtete hier nicht darüber!, schrieb nur beim Bücherblogger im Zwiegespräch darüber] in die Hände [das Buch ist längst ausgelesen, andere Beckett-Bücher fanden sich hinzu, irgendwann werde ich gesondert über dieses – ebenfalls - Zu-Fall-s-Phänomen berichten].

Besonders haben es mir stets die „Kruschtelkisten“ angetan. Kisten, in denen preislich meist herabgesetzte Bücher, CD oder DVD zu finden sind. Ich blätterte und erwarb ein Büchlein aus dem Kunstmann-Verlag von Lothar Baier, Was wird Literatur? Es ist ein Buch aus dem Jahr 2001, in dem der Autor – ausgehend von Jean Paul Sartre`s legendärem Essay „Was ist Literatur“ den „gegenwärtig [also damals bis ins Jahr 2000 hinein gegenwärtigen] Standort der Literatur und den des Literaturbetriebs erkundet. Ein handliches Büchlein im DVD-Format, 186 Seiten umfassend, wie geschaffen als Begleitlektüre für eine kleine Reise – demnächst [wieder einmal].

Zwei, drei Kruschtelgriffe weiter fiel mir dann das, was ich eingangs als das gelenkte „Zu-Fall“-en bezeichnete, in die Hände:
Die Notizbücher von Peter Weiss als Kritische Gesamtausgabe in digitaler Form bei der Digitalen Bibliothek. Vermutlich waren es die folgenden Worte - „Jetzt endlich systematisch erschlossen: die maßgebliche Quelle zu Leben und Werk“ – die mich in ihren Bann zogen.

Bisher habe ich niemals ein Buch, geschweige denn eine Werksausgabe, als digitale Ausgabe gekauft, da ich es hasse, Bücher am Computer, auf einem ipad oder in Form eines e-book zu lesen. Da geht mir das haptische Vergnügen ab, die Möglichkeit hinein malen, schöne Sätze anstreichen oder sonst wie hinein sudeln zu können.
An den Autor hatte ich, im Moment des stöbernden Innehaltens und Hin- und Herwenden dieser DVD-Hülle, weder an die Person noch an eines seiner Werke eine Erinnerung. Der Rückumschlag gab dazu auch nicht viel her:
Peter Weiss (1916-1982) ist einer der bekanntesten deutschsprachigen Schriftsteller der 60er und 70er Jahre. Der Autor bedeutender Werke wie „Die Ermittlung“ (1965) und „Die Ästhetik des Widerstands“ (1975-1981) notierte bis zu seinem Tod im Mai 1982 regelmäßig Bemerkungen zur Zeit, zu seinem Leben und seiner Arbeit. Die Notizbücher umfassen zusammen 9.432 Seiten. Am Schnittpunkt von Leben und Werk dokumentieren sie – neben Spuren des Alltagslebens – persönliche Begegnungen, jeweils aktuelle Anstösse, Probleme und Widerstände der literarischen Produktion und zeitbezogene Reflexionen des Autors. Mit dieser CD-Rom wird erstmals eine vollständige Transkription der handschriftlichen Notizbücher veröffentlicht. Im Vergleich dazu enthält die Ausgabe auch die vom Autor selbst veröffentlichten „Notizbücher 1960-1971“ und „Notizbücher 1971-1980“, die eine stark bearbeitete Auswahl darstellen. Die CD-Rom ermöglicht eine komfortable Nutzung durch Hyperlinks, Volltextsuche, textkritische Anmerkungen, Register und beigefügte Faksimiles.

Gleichwohl ich keine Erinnerung an den Autor hatte, reichten diese dürren Sätze, um die CD-Rom auch noch mit zur Kasse zu nehmen.

Zuhause warf ich den Computer an und stürzte mich zitternd in die Installation [zitternd, weil ich nicht gerne alleine exe.-Dateien installiere] und begann den Inhalt zu erforschen: Die Art wie Peter Weiss seine Notizbücher führte, die Art wie er sie überarbeitete. Ich erfuhr, dass er Notate führte, die eigentlich nie zur Veröffentlichung bestimmt waren und dass die Mehrzahl seiner Notizen der literarischen Arbeit an seinen Werken dienten. Er kaufte daher dreimal in diesen zwei Dekaden größere Bestände an Kladden mit fest gebundenem Einband, damit seine Einträge über Jahre hinweg in einem größeren räumlich-zeitlichem Zusammenhang in der gleichen Art von Notizheften eingetragen waren.

Nachdem ich mir den Überblick über den Aufbau der Notizbücher wie auch der CD-Rom erschlossen hatte, blätterte ich hinein [dankenswerter Weise lässt sich diese digitale Bibliothek intuitiv bedienen, so dass ich mir das siebzehnseitige Handbuch der Anwendungserläuterung schenken konnte]. Je länger ich klickte und scrollte, um so mehr faszinierten mich die Notate:
Sie umfassen wirklich das Leben von etwa drei Dekaden [weil auch schon über die 1950er Jahre einiges zu erfahren ist]. Auch wenn Peter Weiss oft nur in Stichworten seine literarischen Arbeitsgedanken und Ideen festhält, ein[e] geneigte[r] Leser[in] erfährt viel. Nicht nur wie sich seine literarischen Ideen bildeten, er sie entwickelte, sondern vor allem wie er seine Theaterstücke er-schuf, wie er Dialoge formulierte, wie seine Bühnenstücke Form annahmen [z.B. beim berühmten Bühnenstück „Hölderlin“], wie er sich Schritt für Schritt – gleich ob Theater oder Roman – seine Stoffe erarbeitete, sich seine Themen ausbildeten:
Seine zehnjährige Arbeit an dem mehrbändigen Werk „Die Ästhetik des Widerstands“ lässt sich unglaublich gut nachvollziehen, der Schweiß, die Anstrengung, die Auseinandersetzungen mit anderen, die ihn die richtigen Gedanken und Worte finden ließen.

Wer zwischen den Zeilen lesen kann, weil er zu dieser Zeit bereits den Kinderschuhen entwachsen, kann die Leerstellen der handschriftlichen Stichworte - die Sätze in den Notaten, die sehr gut transkribiert sind - mit dem eigenen Wissen aus der damaligen Zeit auffüllen.

Aufgrund seiner vielen Reisen, ist das Werk auch ein Stück gelebte außenpolitische Geschichte. Besonders eindrucksvoll: Die Notate über seine Reise ins Kriegs geschüttelte Vietnam im Mai-Juni 1968. Er hält seine Eindrücke in mehreren Notizbüchern fest, in einem Notizbuch des Jahres 1970 kommt er erneut darauf zurück, schiebt es zwischen seine Arbeitsnotizen zu Hölderlin. Packend - wie in einem Roman - schreibt er über den Vietnamkrieg und seinen Aufenthalt, dass einem der Atem stockt:

…ich lag im Sand vergraben, gelähmt, Sand im Mund, ein Rieseln von Sand, mehr und mehr übersickert von Sand, und so wie ich lagen viele in dieser Nacht, in den südlichen Provinzen, hineingeschleudert, hineingesogen in die Erde, unterm Dröhnen der Bomber, beißend der Gestank, vernichtend die Hitze des Napalmfeuers, vereinzelte Schreie noch im Qualm, die Sanitäter, die Pioniere eilen durch die Laufgräben, im unterirdischen Lazarett, im fahlen flackernden Licht, genährt vom Fahrraddynamo, die Ärzte am Operationstisch, Sand stäubt herab, draußen Stille, dann die Woge des erneuten Angriffs, rasender Orkan, aufgepflügt die schon unzählige Male gepflügte Erde, voller Gebeine, Stahlfragmente, blutiger Körperteile, das Hämmern der Luftabwehrgeschütze, und hoch oben die Mörder, in kunstvollen Hülsen, zwischen Drähten, Stöpseln, Druckknöpfen, jeder Millionen wert, jeder Tausende von Dollars hinabschleudernd zu protzenden Explosionen,
und in der Lähmung war nur der Wunsch zu spüren, träfe doch jedes Abwehrgeschoß diese losgelassenen Boten der Technokratie, hielten sie aus, hier im Sand, ertrügen sie diese Nacht, und die kommenden Nächte, verteidigten sie uns weiter, hier, zusammengedrängt auf engem Platz, übertönten sie mit ihren Geschossen, ihren Raketen das Geschrei der Vernichtung, besiegten sie die Herren im Weißen Haus, im Pentagon, die Herrn über die Bohrtürme, die Zinngruben, die Atommeiler, die Fabriken und Banken im reichsten Land der Welt, besiegten sie die Speichellecker in den westlichen Metropolen, die aus den Mordbefehlen Friedenshymnen, Lobgesänge auf Demokratie und Gerechtigkeit machten. Dazu mußte ich hierher kommen, um zu erfahren, wie sie hier für uns kämpfen, für uns sich in die Erde drücken lassen, für uns die Revolution führen, begleitet von den frommen Wünschen ihrer Brüder, während wir weit entfernt von ihnen, erstarrt in unserm Schrecken, mit angehaltenem Atem warten und verrotten, dazu mußte ich hierher kommen, um mich zu konfrontieren mit ihrer schweigsamen lächelnden Selbstverständlichkeit, die sie in Jahrhunderten ihrer Geschichte erwarben, uns unendlich an Entschlußkraft, Konsequenz, Wissen, Humanität überlegen, uns belehrend, die wir erbärmlich und pessimistisch zu ihnen kommen und sie fassungslos fragen, wie sie es fertig bringen, diesem Feind standzuhalten, seit Jahrzehnten, und wenn notwendig, noch jahrelang. Und hilfsbereit, zuvorkommend, voller Würde, setzen sie uns Schwächlingen und Verwöhnten viele gefüllte Speisenschalen vor, lassen uns teilhaben an den Künsten ihrer Küche, während sie selbst sich mit einer Reisschale begnügen, erbieten uns die wenigen noch heilen Betten, während sie zusammengerollt liegen im Sand, und wenn wir unsre Beschämung zeigen, so überzeugen sie uns davon, daß unser Besuch für sie von großem Wert ist, daß unsre Freundschaft sie in ihrem Kampf stärkt, daß auch wir beitragen zu ihrem Sieg. Ich war hierher gekommen, um zu lernen, was Widerstand ist, und zuerst lernte ich nur, wie es ist, sich nicht rühren zu können, erstarrt, hingeworfen, weggeschmissen dazuliegen unter dem irrsinnig rasenden Giganten, erloschen unter dem Gewicht der Todeszivilisation, die sich austobte über diesem Land.


(Auszug aus Notizbuch 20, Peter Weiss, Die Notizbücher, S. 11719-11721, Digitale Bibliothek, Kritische Gesamtausgabe)
3028 mal gelesen
Bubi40 - 31. Aug, 11:35

schon wieder ein zufall ...

ich kann mich damit brüsten einer der ersten gewesen zu sein, der " Die Ermittlung " auf einer bühne erlebt hat. es war im oktober 1965 im plenarsaal der Volkskammer der DDR im rahmen einer ringaufführung an verschiedenen orten in ganz deutschland. die bühne war das leergeräumte präsidium, auf dem mit einigen stühlen ein gerichtssaal imaginiert wurde. die darsteller waren im wesentlichen personen des öffentlichen lebens. ich erinnere mich, dass auch der damalige kulturminister eine rolle las. ( bis auf einige professionelle schauspieler lasen die laien ihren part.) Helene Weigel und Mathilde Danegger waren auch mit von der partie. ich stand an der kamera - das stück wurde im fernsehen übertragen. mich hatte diese lesung damals sehr beeindruckt, auch deshalb, weil die laien jenseits von aufgesetztem pathos, und mit ihrer natürlichen aufregung eine seltsame stimmung erzeugten, die das ungeheure der behandelten vorgänge mitschwingen ließ. die erinnerung war vollkommen verschüttet, und wurde dank ihres beitrages wieder "aktiviert".
danke also liebe teresa für ein stück gute erinnerung.
ich wünsche ihnen natürlich viel freude, viele erkenntnisse und auch etwas kurzweil bei der erforschung des werkes von Peter Weiss.

Teresa HzW - 31. Aug, 12:44

... hin zu fall-end-bereichernd

Ach, wie schön, dass es jemanden, S I E , lieber Josef, gibt, der aus erster Hand zu berichten und damit zu bereichern weiß!

Ihre Ergänzung bringt mich zu der Überlegung: Heute würde wohl keiner die Erlaubnis erhalten, in einem Plenarsaal ein Theaterstück aufführen zu dürfen, noch dazu mit einem "echten" Minister in einer der Schauspielrollen. Irgendwie unvorstellbar das... zumindest schwer vorstellbar in heutiger [medialer]Zeit.

Jedenfalls freue ich mich, dass mein Eintrag [von dem ich dachte, dass er wohl so speziell ist, dass ihn kaum einer liest], immerhin bei Ihnen zu einer guten Rück-Erinnerung beitragen hat.
Der Buecherblogger (Gast) - 31. Aug, 20:11

"Mag sein, es waren kreativ geschwängerte Luftschwaden, die mich benebelten und so in ihren Bann zogen"

Ihre literarischen "Luftschwaden" und Entdeckungen in den "Kruschtelkisten" gefallen mir, auch sprachlich. Im nordischen Hochdeutsch heißt das ja "Grabbeltisch", aber das klingt nach Billigklamotten.

Mit der "Digitalen Bibliothek"-Reihe auf CDROM hatte ich beruflich sehr viel zu tun. Ich habe das CDROM-Netzwerk einer großen Bibliothek zehn Jahre betreuen dürfen und deshalb schmunzele ich über die Ängste vor der Exe-Datei, kann sie aber gut verstehen. Die digitalen Ausgaben von Lexika, Bibliographien oder auch Werkausgaben wurden weder als Einzelplatzinstallationen noch im Netz mit gleichzeitig mehrfachem Zugriff allzu sehr genutzt. Eher etwas für Spezialisten. Lesen am Computer mag ich auch nicht, aber die Suchfunktionen der digitalen Werkausgaben sind wirklich nützlich. Mir fällt dazu gerade mal wieder Musil ein, den "Mann ohne Eigenschaften" nach einzelnen Wörtern durchsuchen zu können, ist hilfreich. Ansonsten habe ich mir die Kindle-PC-Version heruntergeladen und stöbere ganz gern mal in den kostenlosen Ausgaben deutscher Klassiker wie den Werken von Fontane oder E. T. A. Hoffmann. Gut lesbar sind sie zumindest mit dem Programm. Ich sehe das Digitale eher als Ergänzung zum Buch und eigentlich nicht in Konkurrenz dazu, aber der Markt will natürlich immer nur verkaufen.
Beckett und Peter Weiss kommen mir wie Fossilien einer anderen Zeit vor, die in eine postmoderne Beliebigkeit nicht mehr so richtig passen wollen. Beckett löste den Existenzialismus in grotesk bis komische Absurdität auf und der politische Anspruch einer Generation ´68 kommt mir leider auch so vor, als würde eine kulturbeflissene Schickeria von heute sich an politische Bewegungen von gestern erinnern, die sie aber selbst (und ich schließe mich damit ein) durch bürgerlichen Lebenswandel unterlaufen haben. In Deutschland gibt es keine wirklichen Proteste mehr (nur noch gegen Bahnhöfe, Regierungen fegt das nicht hinweg) und hier wird auch nie eine arabische Revolution stattfinden. Die verbale, mediale Schlacht der Talkshows führt sich selbst ad absurdum, womit wir wieder bei Beckett wären. Die Zeiten mit dem "Versuch das Endspiel zu verstehen" (Adorno) sind vorbei, selbst zur Nostalgie geworden.
So ergreifend und berechtigt damalige Politisierung gegen den Vietnamkrieg war, alles verschwindet im Abgrund Zeit.
Becketts Essay über Proust muss ich noch lesen, die digitale Klagenfurter Gesamtedition von Musil (zu teuer) möchte ich mir noch aus der Bibliothek besorgen. Ich schreibe sehr spontan und ins Unreine, aber ich wollte gern ein Lebenszeichen hinterlassen.
Ich verabschiede mich mit dem Schluss von "Un amour de Swann":

"les maisons, les routes, les avenues, sont fugitives, hélas, comme les années."

Ich grüße Sie herzlich

Dietmar

Teresa HzW - 16. Sep, 19:22

@Bücherblogger

Ihr Lebenszeichen hier zu entdecken, welch Freude! Umso mehr, als ich wohl wieder einmal ins Schwarze gestoßen bin und ein „Werk“ aus dem „Grabbeltisch“ zog, das auch Ihrem kritischen Bücherblick standhält, lieber Dietmar. Mehr noch. Mein Herz machte einen Sprung, als ich las, dass Sie ein Insider dieser Digitalen Bibliotheks-Reihe sind. Da ist es schon vorprogrammiert, dass ich wieder einmal einen digitalen Band aus dieser Reihe wählen werde. Obwohl ich heute natürlich noch nicht weiß, wohin mein Lese- und Recherche-Interesse mich führen wird ;-)

Besonders angetan haben es mir Ihre Bemerkungen zu „Beckett und Peter Weiss“, die Ihnen „wie Fossilien einer anderen Zeit vor[kommen], die in eine postmoderne Beliebigkeit nicht mehr so richtig passen wollen.“
Unwillkürlich schrak mir beim Lesen dieser Ihrer Textpassage durch den Kopf: „Bin ich nun auch ein Fossil?“ Da ich mich mit „fossilen“ Literaten beschäftige?

„Aber nein“, beruhigte mich meine Alter Ego-Stimme mit einem Argument von Sloterdijk: Der große deutsche Philosoph reflektierte jüngst in einer Talkshow darüber, dass nun die ehemals surrealen Theorien Wirklichkeit zu werden beginnen.

Ihre Feststellung über die „kulturbeflissene Schickeria“ kann ich daher recht gut nachvollziehen. Mehr noch: Ich erlebe sie tagtäglich, da in BW ja nun Vertreter derselben in Regierungsfunktionen sind und uns, das Volk, jeden Tag mit neuen absurden Haltungen überraschen. Die Überraschung besteht darin, dass Dinge, die man bisher für absurd hielt, nun Wirklichkeit zu werden beginnen, dadurch dass absurde und den Steuerbürger viel Geld kostendes Regierungshandeln ins reale Leben übersetzt wird. Hoffentlich habe ich das nun nicht zu absurd formuliert…

Vermutlich verschwindet alles, v.a. "Politisierungen", nur deshalb im "Abgrund der Zeit", weil es heute im Gegensatz zu früher keine Generationsübergänge mehr gibt.
Heute löst abrupt ein Junger einen Alten ab. Früher – also bis vor zehn Jahren etwa, würde ich sagen - ging eine Aufgabe meist auf einen in der Generation Nachfolgenden über, der oft sogar ein Ziehsohn [Ziehtöchter gab es ja kaum] eines Älteren war. Dadurch wurde Kontinuität und Know-how-Transfer sicher gestellt. Vor allem Informationen über heikle Situationen. Heute wird abgelöst. Meist von einer Sekunde auf die andere. Und im politischen Geschäft immer häufiger hingeschmissen. Prominente Beispiele gibt es ja genug. Dadurch geht das Gespür für kritische Situationen oder die Lehren, die Betroffene aus weniger guten Erfahrungen gezogen haben, verloren. Es gibt keine Zeit mehr, Leute einzuführen, einzuweisen, wichtige Dinge zu vermitteln, mit auf den Weg zu geben. Vor allem im politischen Geschäft. Das macht dieses „hopp“ und „ex“ zunichte.
Insofern nimmt es mir manchmal sogar beängstigende Ausmaße an, wenn ich sehe, wieviel Erfahrung und Know-how in diesen zeitlichen Abgründen des schnellen Vergessens, Nicht mehr Erinnerns verschwinden.
Erschreckend, wie wenig oft die sog. Nachfolger über die jüngere Geschichte wissen, geschweige denn über das, was vor fünfzig, sechzig Jahren war.
Und wie heißt es auf der drittletzten Seite bei dem von Ihnen zitierten Roman: „Denn aus unvollständigen und wechselnden Bildern zog der schlummernde Swann falsche Folgerungen, wobei er zudem im Augenblick eine so starke Schöpferkraft besaß, daß er sich einfach wie gewisse niedere Organismen durch Teilung vermehren konnte“ [ein passendes Abschlußzitat zu meinen Ausführungen von den unwissenden, unerfahrenen Nachfolgern… finden Sie nicht ;-) Jedenfalls gefiel mir das von Ihnen gewählte französische Zitat zu Ihrem Gedankengang sehr gut!]

Daher danke ich Ihnen sehr für Ihr spontanes Lebenszeichen, das ich gar nicht als so „spontan und ins Unreine geschrieben“ empfand. Zumal ich sonst nicht zu diesen Ausführungen gekommen wäre.

Ein ebenso herzlicher Gruß zu Ihnen hinüber
Teresa

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