Montauk III – Eine Lebensbeziehung wie ein Donnerschlag
Der dritte Teil meines Max Frisch-Lese-Experiments zu Montauk handelt von Menschen und ihren Beziehungen, nicht irgendwelchen, sondern solchen von ganz besonderer Art: Der Lebensbeziehung.
"Geh…geh…geh…Beziehung soll man niemals sagen",herrscht mich einer an, während ich die obigen Zeilen Ihnen niederschreibe.
Ich zucke zusammen, während über mir der nächste Schwall donnernder Worte herabregnet:
"Es gibt Frauen und gibt Männer und dazwischen gibt es entweder Liebe oder gar nichts oder Freundschaft oder Verachtung oder Hass oder Neid. Beziehung ist eine Verächtlichmachung des Partners. Beziehung ist eins der dümmsten Worte, die wir haben."
Ich bin wie vom Donner gerührt.
Dann sollte ich also nicht mehr die Worte von der Lebensbeziehung in den Mund nehmen, wenn ich nun über Max Frisch schreibe und seine…, ja – was war das dann? Wie sollte ich das nennen, was er da beinahe zeitlebens, zumindest jedoch bis etwa um das fünfzigste Lebensjahr herum zu einem anderen, er nennt ihn in Montauk den W., pflegte? Und worüber ich las. Auf elf zusammenhängenden Seiten in jenem Buch
"Geh…geh…geh… sei geistreich. Mache staunend. Du bist doch auch Frühaufsteherin", flüstert mir nun die Stimme, seine Stimme, aus dem Off, aus dem Jenseits, ins Ohr.
Das imaginäre Gegenüber, mein Lesepublikum, Sie verehrte Leserinnen und Leser, hier staunend machen?
Nun denn, lieber Denkanstifter, ich versuch`s.
Ich versuche jenes von Ihnen verachtete Wort zu vermeiden, wenn ich heute darüber schreibe, dass ER, der Protagonist in Montauk, seinem Lebensfreund ["Ist Ihnen das Wort angemessener, angenehmer?"] W. elf Seiten widmet, voller Bewunderung über ihn spricht:
Darüber wie er ihn einstmals kennenlernte, in der Schule. Wie sie sich von Kindesbeinen an anfreundeten, viel Zeit miteinander verbrachten und gegensätzlicher nicht hätten sein können.
W. aus begütertem Elternhaus mit "eigenen Tennisplatz im Garten" und Hauspersonal.
M. schreibt, er habe ihm viel zu verdanken: "Es gab nur eine Sache, wofür ich nie dankbar war: seine Anzüge, die für mich eine Nummer zu groß waren. Meine Mutter konnte zwar die Ärmel kürzen, die Hosen auch, trotzdem passten sie mir nicht. Ich trug sie halt, um W. nicht zu kränken…"
Wer kennt sie nicht solche Freundschaften?
Wer hat nicht jemanden in seinem Lebenskreis, dessen alte Jacke oder Hose oder Kleid oder Schuhe er geerbt und aufgetragen?
Auch wenn es wohl eher selten ist, dass einem ein solcher Freund, eine solche Freundin das Studium bezahlt, wie es Max Frisch mit W. geschehen: "16.000 Franken (was damals mehr wert war als heute) für vier Jahre; also 4.000 Franken im Jahr."
Auch nicht-materielle Werte schenkte er ihm, brachte ihm die Kunst, die Musik zum Beispiel nahe und das Engadin. "Ohne W. wäre ich nie auf die Berge gelangt", bekennt M., "und ich meine ja nicht nur, dass die Reise ins Engadin für mich unerschwinglich gewesen wäre. Er kannte das Engadin. Er war der bessere Alpinist. Seine Familie hatte dort einen Bergführer, der ihn Jahr für Jahr unterrichtet hatte."
M. profitierte davon, wie auch von anderem, der Kunstsammlung der Familie etwa, mit deren Verkauf er dann als Studiosus betraut. Die er vermakeln durfte, eher sollte. Eine Bitte, die er nicht abzulehnen wagte: "Es war mir nicht ganz wohl bei dem Vorschlag, anderseits fand ich es richtig, dass ich dem Haus, dem ich schon so viel verdanke, einmal einen Gefallen erweise." Drei Nachmittage opfert er dieser "Occasion", den alten Gemälden aus Privatbesitz.
Die Familie von W. schaltet Inserate. Vom Verkauf sollte er Tantiemen erhalten, je mehr er für ein Gemälde erzielte, um so größer sollte sein Gewinn sein. "Ein Advokat, der Firma des Vaters verpflichtet, kaufte eine große Magdalena mit nacktem Busen, die sich fürs Schlafzimmer eignet. Die Hirschen und Eber hatten es schwerer. Ich empfahl Landschaften, die nicht nur den Jäger ansprechen, Landschaften mit Windmühle im Gegenlicht oder mit Schilf."
Jedoch er verkaufte kaum etwas und wenn "auf den untersten Preis. Kein guter Makler also."
Nach drei Monaten wurde die Unternehmung eingestellt. Max Frisch war gekränkt. Es kam weder darüber noch über andere Differenzen je zu einem Krach zwischen M. und W. Dennoch mit den Jahren veränderte sich die Lebensfreundschaft ["Ach, wie schwer es fällt, das Wort Beziehung zu vermeiden!"].
In der Rückerinnerung, die Max Frisch hier betreibt, wird ihm bewusst, dass er nie eine der Freundinnen, eine der Geliebten, des W. "zu sehen bekommen habe", nur dessen Ehefrau.
Umgekehrt lud er ihn jedoch in seine gemeinsame Wohnung mit Ingeborg Bachmann ein [ja, hier auf Seite 1552 – sehr früh, wie ich finde – widmet er beiden eine gemeinsame Erinnerungsseite, seinen beiden wichtigen Lebens-Begegnungsmenschen. Dass sie jahrelang die Geliebte und Lebensgefährtin von Max Frisch dürfte den meisten unter Ihnen bekannt sein, werte Leser-innen].
Doch beide, W. und I., hatten offensichtlich ihre Schwierigkeiten miteinander - "trotz Champagner; ich wusste, dass er Champagner mag. Und sie wusste, wie viel ich diesem Mann verdankte."
Der von ihm befürchtete Philosophenstreit zwischen den beiden ihm da noch wichtigen Menschen bleibt zwar aus, dennoch fühlen sie sich gegenseitig unverstanden; Frisch beschreibt das sehr plastisch durch die Wahl der Beispiele aus jener gemeinsamen Begegnung der Drei. W. scheint Ingeborg Bachmann verachtet zu haben, obwohl sie dem W., wie Frisch später aus dritter Hand erfuhr, "in einem gewissen Sinn" gefiel.
Ob das dazu führte, dass W. und M. in jenem Jahr 1959 ihre letzten Begegnungen, auch ihre letzte gemeinsame Wanderung, miteinander hatten? Ob Frisch sich erneut gekränkt fühlte, als er von einem Dritten nach jener Dreier-Begegnung erfuhr, "dass W. sich wunderte, wie der Frisch zu einer solchen Gefährtin gekommen sei." Oder lag es daran, dass M. selbst sich von W. schon lange nicht mehr verstanden fühlte, sie sich kontinuierlich auseinander entwickelt hatten, seit M. wieder mit seiner Schriftstellerei anfing.
"Wann er mir gleichgültig wurde, weiß ich nicht genau."
Das Ende dieser Leseseiten ist denn auch ein Donnerschlag. Eine Grausamkeit. Es fühlt sich an wie der plötzliche Tod. Der Tod einer Freundschaft, die endet. Jedoch nicht, weil einer plötzlich den Hut ins Grab wirft, sondern weil sie einschlief, verloren ging. Die beiden gingen einander verloren. Obwohl sie sich doch so lange hatten, beinahe ein halbes Leben lang.
Ob einer an des anderen Grab gestanden, dazu gibt diese Textstelle nichts her. [Vielleicht findet der geschätzte Bücherblogger einen Eintrag in einem der drei Tagebücher dazu?]
Ein Schock ist es dennoch, was Frisch hier seinen Leser[inne]n zumutet, auf den letzten Zeilen, in den letzten Sätzen dieser elfseitigen Erinnerung. Eine Erinnerung, die am Textende wie eine "Erynnie" anmutet, eine jener griechischen Rachegöttinnen, über die er zehn Seiten vorher schrieb: "Wo werden die Erynnien mich packen?" Mir scheint: HIER haben sie ihn gepackt!
Wie anders doch sind die Erinnerungen an einen anderen, den ich HIER >>> schon in meine Erinnerungen einschloss, damals und heute.
"Jawoll, geh…geh…geh… bis Du…. bis dahin empfehle ich mich Euch – in aller Liebe: Von A bis Zet! K.W."
Anmerkung: Die Beisetzung fand bereits im engsten Familienkreis statt.
P.S.:
In eigener Poetologie [kann ich das so nennen?]
Das Morbide!
Ich vermisch[t]e es heute miteinander.
Ihnen, liebe aufmerksame Leser[innen], ist es oben sicher nicht entgangen. Ich hatte es gestern in [m]einem Kommentar an einen Lesegast hier noch scherzhaft hingeschrieben. Heute holt mich das ein! Schneller als ich dachte. Wobei ich daran gar nicht dachte, an etwas Morbides. Bis vorhin, als ich mich an diese Schreib-Maschine setzte.
Manche unter Ihnen mögen es als geschmacklos empfinden, wenn ich d a s >>> E I N E mit jenem a n d e r e n hier >>>>> vermische. Doch das ist Postmoderne. So sind sie, besser waren sie, die >enfants terrible<, die Väter der Postmoderne, William S. Bourroughs, Italo Calvino, Julio Cortázar, Barthes immer ein wenig morbide, immer ein wenig verrucht. Unplanbar. Unberechenbar.
Das lässt sich nicht lernen. Das passiert einfach. Mir auch. Heute. Ohne es absichtlich gewollt zu haben. Wenn eine[r] von Ihnen sich mit Ekel abwendete, nun, ich verstünde es. Der rational-ethisch-religiöse Teil in mir versteht es, die Schreibteufelin, die ihre Höllenfeder in die Welt hinaus reckt, die nicht. Die ist radikal. Sie muss radikal sein. Deswegen: Postmodernes Schreiben. Das ist mir ein wenig wie die Cut-up-Technik. Nur dass ich kein bereits gedrucktes Material in vier Teile zerschneide und willkürlich neu zusammensetze, darauf wartend, was für unsinnige Worte sich daraus ergeben. Mir geht es um das Verweben von altem mit neuem Material, das Sezieren und Auseinandernehmen von Vorhandenem [und das kann Vielerlei sein] und dann miteinander verschränken, neu miteinander verweben. Von dem, was da war und ist, mit dem was neu erdacht, überlegt, erwogen, aufgeregt, erregt, angeregt wird. Von meinem Inneren oder von außen an mich herangetragen. Entdeckt. Aufgedeckt. Altes Abschneiden und Neues ansetzen. Vielleicht ein wenig in der Art wie der Vater von Frankenstein oder der Plastinator von Heidelberg, nur dass ich es mit Worten im Computer und nicht mit Menschen auf dem Labortisch der Forensischen treibe.
3930 mal gelesen
"Geh…geh…geh…Beziehung soll man niemals sagen",herrscht mich einer an, während ich die obigen Zeilen Ihnen niederschreibe.
Ich zucke zusammen, während über mir der nächste Schwall donnernder Worte herabregnet:
"Es gibt Frauen und gibt Männer und dazwischen gibt es entweder Liebe oder gar nichts oder Freundschaft oder Verachtung oder Hass oder Neid. Beziehung ist eine Verächtlichmachung des Partners. Beziehung ist eins der dümmsten Worte, die wir haben."
Ich bin wie vom Donner gerührt.
Dann sollte ich also nicht mehr die Worte von der Lebensbeziehung in den Mund nehmen, wenn ich nun über Max Frisch schreibe und seine…, ja – was war das dann? Wie sollte ich das nennen, was er da beinahe zeitlebens, zumindest jedoch bis etwa um das fünfzigste Lebensjahr herum zu einem anderen, er nennt ihn in Montauk den W., pflegte? Und worüber ich las. Auf elf zusammenhängenden Seiten in jenem Buch
"Geh…geh…geh… sei geistreich. Mache staunend. Du bist doch auch Frühaufsteherin", flüstert mir nun die Stimme, seine Stimme, aus dem Off, aus dem Jenseits, ins Ohr.
Das imaginäre Gegenüber, mein Lesepublikum, Sie verehrte Leserinnen und Leser, hier staunend machen?
Nun denn, lieber Denkanstifter, ich versuch`s.
Ich versuche jenes von Ihnen verachtete Wort zu vermeiden, wenn ich heute darüber schreibe, dass ER, der Protagonist in Montauk, seinem Lebensfreund ["Ist Ihnen das Wort angemessener, angenehmer?"] W. elf Seiten widmet, voller Bewunderung über ihn spricht:
Darüber wie er ihn einstmals kennenlernte, in der Schule. Wie sie sich von Kindesbeinen an anfreundeten, viel Zeit miteinander verbrachten und gegensätzlicher nicht hätten sein können.
W. aus begütertem Elternhaus mit "eigenen Tennisplatz im Garten" und Hauspersonal.
M. schreibt, er habe ihm viel zu verdanken: "Es gab nur eine Sache, wofür ich nie dankbar war: seine Anzüge, die für mich eine Nummer zu groß waren. Meine Mutter konnte zwar die Ärmel kürzen, die Hosen auch, trotzdem passten sie mir nicht. Ich trug sie halt, um W. nicht zu kränken…"
Wer kennt sie nicht solche Freundschaften?
Wer hat nicht jemanden in seinem Lebenskreis, dessen alte Jacke oder Hose oder Kleid oder Schuhe er geerbt und aufgetragen?
Auch wenn es wohl eher selten ist, dass einem ein solcher Freund, eine solche Freundin das Studium bezahlt, wie es Max Frisch mit W. geschehen: "16.000 Franken (was damals mehr wert war als heute) für vier Jahre; also 4.000 Franken im Jahr."
Auch nicht-materielle Werte schenkte er ihm, brachte ihm die Kunst, die Musik zum Beispiel nahe und das Engadin. "Ohne W. wäre ich nie auf die Berge gelangt", bekennt M., "und ich meine ja nicht nur, dass die Reise ins Engadin für mich unerschwinglich gewesen wäre. Er kannte das Engadin. Er war der bessere Alpinist. Seine Familie hatte dort einen Bergführer, der ihn Jahr für Jahr unterrichtet hatte."
M. profitierte davon, wie auch von anderem, der Kunstsammlung der Familie etwa, mit deren Verkauf er dann als Studiosus betraut. Die er vermakeln durfte, eher sollte. Eine Bitte, die er nicht abzulehnen wagte: "Es war mir nicht ganz wohl bei dem Vorschlag, anderseits fand ich es richtig, dass ich dem Haus, dem ich schon so viel verdanke, einmal einen Gefallen erweise." Drei Nachmittage opfert er dieser "Occasion", den alten Gemälden aus Privatbesitz.
Die Familie von W. schaltet Inserate. Vom Verkauf sollte er Tantiemen erhalten, je mehr er für ein Gemälde erzielte, um so größer sollte sein Gewinn sein. "Ein Advokat, der Firma des Vaters verpflichtet, kaufte eine große Magdalena mit nacktem Busen, die sich fürs Schlafzimmer eignet. Die Hirschen und Eber hatten es schwerer. Ich empfahl Landschaften, die nicht nur den Jäger ansprechen, Landschaften mit Windmühle im Gegenlicht oder mit Schilf."
Jedoch er verkaufte kaum etwas und wenn "auf den untersten Preis. Kein guter Makler also."
Nach drei Monaten wurde die Unternehmung eingestellt. Max Frisch war gekränkt. Es kam weder darüber noch über andere Differenzen je zu einem Krach zwischen M. und W. Dennoch mit den Jahren veränderte sich die Lebensfreundschaft ["Ach, wie schwer es fällt, das Wort Beziehung zu vermeiden!"].
In der Rückerinnerung, die Max Frisch hier betreibt, wird ihm bewusst, dass er nie eine der Freundinnen, eine der Geliebten, des W. "zu sehen bekommen habe", nur dessen Ehefrau.
Umgekehrt lud er ihn jedoch in seine gemeinsame Wohnung mit Ingeborg Bachmann ein [ja, hier auf Seite 1552 – sehr früh, wie ich finde – widmet er beiden eine gemeinsame Erinnerungsseite, seinen beiden wichtigen Lebens-Begegnungsmenschen. Dass sie jahrelang die Geliebte und Lebensgefährtin von Max Frisch dürfte den meisten unter Ihnen bekannt sein, werte Leser-innen].
Doch beide, W. und I., hatten offensichtlich ihre Schwierigkeiten miteinander - "trotz Champagner; ich wusste, dass er Champagner mag. Und sie wusste, wie viel ich diesem Mann verdankte."
Der von ihm befürchtete Philosophenstreit zwischen den beiden ihm da noch wichtigen Menschen bleibt zwar aus, dennoch fühlen sie sich gegenseitig unverstanden; Frisch beschreibt das sehr plastisch durch die Wahl der Beispiele aus jener gemeinsamen Begegnung der Drei. W. scheint Ingeborg Bachmann verachtet zu haben, obwohl sie dem W., wie Frisch später aus dritter Hand erfuhr, "in einem gewissen Sinn" gefiel.
Ob das dazu führte, dass W. und M. in jenem Jahr 1959 ihre letzten Begegnungen, auch ihre letzte gemeinsame Wanderung, miteinander hatten? Ob Frisch sich erneut gekränkt fühlte, als er von einem Dritten nach jener Dreier-Begegnung erfuhr, "dass W. sich wunderte, wie der Frisch zu einer solchen Gefährtin gekommen sei." Oder lag es daran, dass M. selbst sich von W. schon lange nicht mehr verstanden fühlte, sie sich kontinuierlich auseinander entwickelt hatten, seit M. wieder mit seiner Schriftstellerei anfing.
"Wann er mir gleichgültig wurde, weiß ich nicht genau."
Das Ende dieser Leseseiten ist denn auch ein Donnerschlag. Eine Grausamkeit. Es fühlt sich an wie der plötzliche Tod. Der Tod einer Freundschaft, die endet. Jedoch nicht, weil einer plötzlich den Hut ins Grab wirft, sondern weil sie einschlief, verloren ging. Die beiden gingen einander verloren. Obwohl sie sich doch so lange hatten, beinahe ein halbes Leben lang.
Ob einer an des anderen Grab gestanden, dazu gibt diese Textstelle nichts her. [Vielleicht findet der geschätzte Bücherblogger einen Eintrag in einem der drei Tagebücher dazu?]
Ein Schock ist es dennoch, was Frisch hier seinen Leser[inne]n zumutet, auf den letzten Zeilen, in den letzten Sätzen dieser elfseitigen Erinnerung. Eine Erinnerung, die am Textende wie eine "Erynnie" anmutet, eine jener griechischen Rachegöttinnen, über die er zehn Seiten vorher schrieb: "Wo werden die Erynnien mich packen?" Mir scheint: HIER haben sie ihn gepackt!
Wie anders doch sind die Erinnerungen an einen anderen, den ich HIER >>> schon in meine Erinnerungen einschloss, damals und heute.
"Jawoll, geh…geh…geh… bis Du…. bis dahin empfehle ich mich Euch – in aller Liebe: Von A bis Zet! K.W."
Anmerkung: Die Beisetzung fand bereits im engsten Familienkreis statt.
P.S.:
In eigener Poetologie [kann ich das so nennen?]
Das Morbide!
Ich vermisch[t]e es heute miteinander.
Ihnen, liebe aufmerksame Leser[innen], ist es oben sicher nicht entgangen. Ich hatte es gestern in [m]einem Kommentar an einen Lesegast hier noch scherzhaft hingeschrieben. Heute holt mich das ein! Schneller als ich dachte. Wobei ich daran gar nicht dachte, an etwas Morbides. Bis vorhin, als ich mich an diese Schreib-Maschine setzte.
Manche unter Ihnen mögen es als geschmacklos empfinden, wenn ich d a s >>> E I N E mit jenem a n d e r e n hier >>>>> vermische. Doch das ist Postmoderne. So sind sie, besser waren sie, die >enfants terrible<, die Väter der Postmoderne, William S. Bourroughs, Italo Calvino, Julio Cortázar, Barthes immer ein wenig morbide, immer ein wenig verrucht. Unplanbar. Unberechenbar.
Das lässt sich nicht lernen. Das passiert einfach. Mir auch. Heute. Ohne es absichtlich gewollt zu haben. Wenn eine[r] von Ihnen sich mit Ekel abwendete, nun, ich verstünde es. Der rational-ethisch-religiöse Teil in mir versteht es, die Schreibteufelin, die ihre Höllenfeder in die Welt hinaus reckt, die nicht. Die ist radikal. Sie muss radikal sein. Deswegen: Postmodernes Schreiben. Das ist mir ein wenig wie die Cut-up-Technik. Nur dass ich kein bereits gedrucktes Material in vier Teile zerschneide und willkürlich neu zusammensetze, darauf wartend, was für unsinnige Worte sich daraus ergeben. Mir geht es um das Verweben von altem mit neuem Material, das Sezieren und Auseinandernehmen von Vorhandenem [und das kann Vielerlei sein] und dann miteinander verschränken, neu miteinander verweben. Von dem, was da war und ist, mit dem was neu erdacht, überlegt, erwogen, aufgeregt, erregt, angeregt wird. Von meinem Inneren oder von außen an mich herangetragen. Entdeckt. Aufgedeckt. Altes Abschneiden und Neues ansetzen. Vielleicht ein wenig in der Art wie der Vater von Frankenstein oder der Plastinator von Heidelberg, nur dass ich es mit Worten im Computer und nicht mit Menschen auf dem Labortisch der Forensischen treibe.
Teresa HzW - 6. Apr, 15:55 - Rubrik [Post]Moderne
So weit habe ich noch nicht gelesen ...
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Aber ich sehe schon jetzt: unser beider Lesen könnte unterschiedlicher nicht sein. Ich bemerke am Stil der kurzen Abschnitte mit den kapitalisierten Überschriften, dass ich vergleiche. Nachdem ich ein Mann bin, vergleiche ich mein Leben und meine Anschauungen mit denen von Max Frisch.
Es gibt Bücher, bei denen das nicht geschieht. Da nehme ich die andere Person als komplett anders wahr und das funktioniert gut. Philip Roth kann schreiben was er will, seine Protagonisten werden mich nie dazu bringen, mich in ihre Lage versetzen zu wollen.
Doch wie beispielsweise hier mündet jeder zweite Satz in die Fragestellung: stimme ich zu oder sehe ich das ganz anders.
Wenn ich jetzt einmal Hesse ansehe, so habe ich die Bipolarität genossen und selbstverständlich konnte ich mich mit dem Steppenwolf identifizieren. Allerdings nur, um mich dann sofort abzugrenzen. Die Vielfalt ist da, aber so darf ich nicht werden. (Ich hatte das Buch schon mit 19 Jahren verschlungen und das meiste davon auch absolut goutiert.)
Und ich könnte ein Josef sein, aber dann doch wieder nicht, weil ich eben schon viel früher "leben" wollte und immer "gedürstet" hatte.
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Aber zurück zu M. Ein bisschen stand schon über Lynn. Ich hab das Buch jetzt nicht greifbar, um den Originaltext zu zitieren. Aber die Frage: "was findet sie denn an mir interessant?" oder so ähnlich, diese Frage kann ich gut begreifen. Kann man als Mensch, der sich nicht verstanden fühlt, ohne diese Frage überhaupt leben. Da geht es nicht nur um "Beziehungen". Ist nicht ein Schriftsteller genau in dem Dilemma, dass er sich täglich fragen muss, ob er denn überhaupt verstanden wird. (Das ist ja so unabhängig von den jeweiligen Verkaufszahlen.)
Und man bemüht sich, noch klarer zu werden. Irgendwann wird die Klarheit zur Kürze, zur Verknappung und transformiert sich damit erst zum Geheimnis.
Ich würde behaupten wollen, dass man als Mann glücklich ist, wenn man von einer Frau aus den Gründen geliebt wird, die man selbst an sich für liebenswert hält. Aber geschieht das denn in Wirklichkeit?
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Ich habe ja schon geschrieben, dass ich keine Zeit zum Lesen habe. Gerade jetzt eben. Ich lese normalerweise so ein Buch an einem Abend zu Ende. Mit der Zielsetzung, etwas über den Leseprozess schreiben zu sollen, wird es ein ganz langsames Lesen werden. Eines wie es beim Sloterdijk war, Du musst dein Leben ändern.
Manche Bücher lese ich immer wieder. Oder manche Geschichten.
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Ich nehme an, dass Sie sich nicht diese Art von Rezension erwartet haben, als Sie zum Mitlesen aufforderten:)
Aber ich bin halt ein Mann.
@Steppenhund
[ich bin immer versucht, -wolf zu schreiben, jetzt seit Ihrer Rezension weiß ich warum ;-) und lag mit meiner Ver-Such-ung so falsch nicht]
Ihre Rezension begeistert mich!
Zumal ich hier gar nichts erwarte, sondern einfach neugierig bin, w a s passiert? WAS für eine Art Kommentar oder Rezension meine Montauk-Lesung[en] hier auslösen...
Es fasziniert mich, zu sehen, wie jeder ein- und denselben Text ganz unterschiedlich wahrnimmt. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass wir unterschiedliche Ausgaben von Montauk als Lese-Vorlage haben und die Seitenzahlen nicht übereinstimmen, weil sie nicht deckungsgleich zu bringen sind. Die Montauk-Ausgabe, die hier Gegenstand meiner Lektüre ist, befindet sich [siehe kleines Foto oben] in der Max-Frisch-Sammlung der Suhrkamp-Quarto-Reihe, die seine Klassiker enthält. Montauk nimmt darin 120 Seiten ein. Ich vermute, Sie lesen die blaue Taschenbuchausgabe, die von Suhrkamp neu aufgelegt wurde, die einen anderen Satzspiegel hat und daher 224 Seiten umfasst. Vermutlich entspricht daher meine Seite 1552 einer Seitenzahl um die 50 herum in der Ausgabe, die Sie in Händen halten. Bei Ihrem schnellen Lesetempo werden Sie mittlerweile auch bei dem hier zitierten Text angekommen sein und Ingeborg Bachmann noch angetroffen haben ;-)
Ich habe vor-geblättert, um zu sehen, was mich morgen erwartet [weil der Leseprozess bei einer 30minütigen Rezept-ion täglich tatsächlich langsam voranschreitet] ;-) Daher morgen: Endlich die Ankunft von Max Frisch und Lynn am Overlook. Und dann bin ich mal gespannt, was die beiden dort tun werden ;-)
Witzig fand ich, festzustellen, dass wir in einem Punkt das Geschriebene in Montauk "ähnlich" wahrzunehmen scheinen, egal auf welcher Seite wir nun aktuell lesen: Auch ich vergleiche! Allerdings nicht vom Geschlechtsspezifischen Standpunkt aus, ginge ja gar nicht, nachdem ich eine Frau bin. *hihi* Da sind Sie als Mann im Identifikations-Vorteil ;-)
Ich vergleiche eben bzgl. der Lebenserfahrungen. Das ist das Beispiel mit den Fragen oben in meinem Blogtext mit den "Kleidungsstücken anderer, die man zum auftragen vererbt bekommt".
Ihre Lese-Erfahrung teile ich: "Es gibt Bücher, wo dies nicht geschieht." Bei Ihnen Hesse, bei mir Paulus Hochgatterer oder Robert Menasse, um zur Abwechslung einmal zwei lebende Gegenwartsautoren zu benennen [weil mir das ja gestern angekreidet wurde, ich läse nur "tote Schriftsteller"].
Wer weiß, womit uns Max Frisch noch am Montauk überrascht!? Vielleicht führt dies dann - angeregt von Ihrem heutigen Dreizeiler über das Glück und die Liebe - zu einem größeren, sehr speziellen Blogeintrag ;-)
es macht Spass
Die von Ihnen angeführten Zitate sind sehr treffend gewählt. So treffend, dass ich mich beim Lesen der elf Seiten gefragt habe, ob ich diesen Teil nicht schon gelesen hatte. Jetzt haben Sie ja nur einen bestimmten Prozentsatz zitiert, den ich aber offensichtlich durchaus die ganzen 11 Seiten repräsentierend und fast ersetzend einschätzen könnte.
Mein Kommentar kann daher nur kurz ausfallen und behandelt zwei Stellen, von denen die eine gleich zweimal im Text vorkommt. Mit einer winzigen Variation - doch davon später.
Sie sprechen von einem Donnerschlag, von einer Grausamkeit.
Aber sie lassen das schmerzlichste Zitat aus: Ich meine, daß die Freundschaft mit W. für mich ein fundamentales Unheil gewesen ist und daß W. nichts dafür kann.
Ich glaube Frisch, dass er das vielleicht wirklich meint, doch dann ist er entweder dumm oder ein Riesen Arschloch. Wie gnädig. W kann nichts dafür. Vielleicht bin ich dumm und erkenne nicht, dass sich Frisch da willentlich selbst ad absurdum führt. Ich kann nicht leben und dann nachher sagen, ich hätte es anders machen müssen. Die Annahme der anfänglich bequemen Freundschaft ist ein willentlicher Akt, selbst wenn es so aussehen mag, als würde man hinein gezogen. Wenn man wirklich erst in späten Jahren drauf kommt, dass es ein Fehler gewesen sein muss, war es kein Fehler. Denn ohne diesen Fehler könnte man die Einschätzung gar nicht treffen. Die Vorstellung, dass irgendetwas Exogenes an den Ungereimtheiten meines Lebens schuld sein könnte, hat Ibsen zur Genüge behandelt. Aber so beiläufig und dabei noch maskiert kann man das Thema Lebenslüge nicht behandeln.
Frisch schreibt ja, dass es ein ehrliches Buch ist. Vielleicht ist diese Passage der Beweis, dass er es wirklich ehrlich meint. Es würde mich interessieren, ob ihn jemand einmal auf diese Passage angesprochen hat.
Etwas sehr Schönes kommt auf den elf Seiten vor, gleich zweimal.
W. hat mir das Engadin geschenkt. und etwas wenig später: W. hat mir sein Engadin geschenkt.
Das ist die Darstellung einer Erfahrung, die ich häufig in meinem Leben gemacht habe. Ich wurde reich beschenkt. Mit Osttirol, mit Kufstein, mit Leningrad, mit Franz Liszt, Robert Schumann, mit Maurice Ravel, mit, mit, mit.
Bestimmte Landschaften, Orte, Personen wurden mir von Menschen geschenkt, die ich geliebt habe. Das ging so weit, dass ich mir nach dem Verlust der Liebe die Orte neu erobern musste. Nach einer gewissen Zeit gab es keine Interferenz mehr. Ich konnte einer Person dankbar sein, die ich nicht mehr liebte. Wenn ich "mit, mit, mit" schreibe, so sind das hunderte oder auch tausende von "mit"s, die sich auf große, aber auch auf ganz kleine Einheiten beziehen können. Da kommt auch die Beziehung mit hinein. In der Mathematik findet sie ja zwischen zwei Entitäten statt. Meine Beziehungen haben drei Ingredienzien: den anderen, das Geschenk und ich selbst.
Über die Geschenke in der Form von Musikern habe ich schon manchmal referiert, teilweise auf Blogteilen, die nicht mehr online sind. Eine Referenz kann ich aber hier angeben.
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Die Steigerung von "das Engadin" zum "sein Engadin" ist mir wohl aufgefallen. Bei der Beziehung M. zu W. kann ich mich manchmal in der einen, dann wieder in der anderen Rolle wiederfinden. Doch das Engadin bleibt außen vor. Das bildet einen fixen Bezugspunkt, mathematisch gesehen ist es eine Invariante.
@Steppenwolf ...und es macht Spass...
Die Grausamkeit, wie ich es nannte, oder das "schmerzlichste Zitat", wie Sie es anmerken, habe ich absichtlich weggelassen, um die Spannung für alle, die wie Sie mitlesen, nicht vorweg zu nehmen ;-)
Gefallen hat mir Ihr "Ausruf: Ich glaube Frisch…..ist…. ein Riesen Arschloch." Ja! Sie drücken es oben aus: Das spontane Gefühl eines[r] Lesers[-in]. Wie käme es mir vor, würde jemand nach 30- oder 40-jähriger Lebensfreundschaft ein solches Fazit ziehen?
Frisch – daher ein Lebenslügner?
Vielleicht nicht so verkehrt, denn Lynn spricht es einige Seiten weiter auf der Wanderung zum Overlook sogar aus: "Max you are a liar!" Oder sollte ich vorsichtiger formulieren [auch im Hinblick auf den "Hinweis" vom Bücherblogger weiter unten hier in diesem Diskussionsstrang]: Der Erzähler legt dies der Protagonistin Lynn in den Mund. Und da Erzähler und Autor und männlicher Protagonist "eins" zu sein scheinen, ist es vielleicht das Fazit, die Wertung, zu der M.F. beim Niederschreiben seiner Nach-Denk-lich-keiten über sich selbst kommt. Insofern – sehe ich als Leserin wie Sie – Frisch führt sich "da willentlich selbst ad absurdum".
So wie Sie es zudem interessiert, ob irgendeiner einmal den Max Frisch "auf diese Passage" [diese Lebenslüge also] "angesprochen hat"; genauso interessiert es mich zu erfahren, w a n n Montauk erstmals vom Verlag veröffentlicht wurde??? [Noch habe ich mir vorgenommen, nichts zu den Hintergründen von Montauk zu recherchieren, da dies unweigerlich meine Lese-Rezeption beeinflussen würde; jedenfalls nicht, bis ich nicht die Hälfte von Montauk gelesen habe… und das wird wohl noch vier, fünf Tage dauern].
Ja, lieber Steppenhund, die schönen Erfahrungen im Leben [wie die schlechten übrigens auch] werden einem von Menschen geschenkt. Wie wahr! Umso mehr schockiert der Umgang von M. mit seinem Freund W. – egal, wie fiktional oder auch autobiografisch dieser Textteil gefärbt ist :-o
@Margit
Daher her damit, wenn Ihnen eine Frage durch den Kopf schiesst :-)