Montauk XII - Du sollst Dir kein Bildnis machen
So lautet bereits ein Gebot im Alten Testament. Dennoch machen wir uns ein Bild. Täglich. Stündlich. Minütlich. Wenn nicht bewusst, dann im Unterbewusstsein. Wo ist der Knopf, um diesen Mechanismus abzuschalten? Zum Beispiel beim Lesen von Max Frisch
"Ich bin nicht Stiller" heißt es gleich im ersten Satz, im Einstieg zum gleichnamigen Roman, der Max Frisch einst berühmt machte. Vorbeugend?
Jedenfalls, gleich im ersten Satz, wird da klare Kante genäht: Klar gestellt, w e r ER n i c h t IST! Weder "er" - sein Protagonist, noch "er" - der Autor. Es wird unmissverständlich klar gestellt, dass man beide nicht miteinander vermischen darf.
Der Protagonist in dem gleichlautenden Roman ist Mister White aus den USA, sagt er jedenfalls, da am Anfang, als er in Untersuchungshaft genommen, weil alle anderen in dem Schweizer Ort ihn für den verschollenen Bildhauer Stiller halten. Dort bleibt er in Gewahrsam bis geklärt ist, wer er ist. Kein Wunder, dass er sich aufregt: "Ich bin nicht Stiller!"
Der ihm von Amts wegen bestellte Verteidiger bringt ihm Schreibhefte. Leere Hefte. Da soll er sein Leben hinein schreiben. "Sagen Sie einfach die Wahrheit, nichts als die schlichte und pure Wahrheit. Tinte können sie jederzeit nachfüllen lassen", meint der Verteidiger, der ihn von Anfang an für den Bildhauer hält. Und da beginnt die wilde Berg- und Talfahrt durch das Leben vom stille[rsche]n Mister White, weil der Anwalt ihm alle früheren Lebens-Personen bringt: Ist er Stiller oder nicht?
Sie alle sagen: JA. Er bleibt dabei: "Ich bin nicht Stiller!"
Ein aussichtsloser Kampf: David gegen Goliath – könnte das Thema dieses anderen Max Frisch-Werks lauten. Und doch verbirgt sich etwas anderes dahinter – was auch im Montauk drin steckt. Etwas, das hier auf den Wi[e]der[]orten in allen Kommentarsträngen, auch in meinen eigenen Einträgen zu diesem Lese-Experiment immer wieder aufscheint: WER ist WER im Montauk?
Wer ist wer ? Auch im Stiller, im Homo Faber – wenn man das Spiel mit der Identität in den Romanen und Erzählungen dieses Weltschriftstellers weiter treiben möchte.
Besonders interessant scheint die Identitätsfrage wieder auf im Gantenbein: "Mein Name sei Gantenbein" – heißt es dort schon im Titel des Romans. Wieder geht es um Identitäten, um Bildnisse, um Rollen. Die Protagonisten probieren verschiedene Rollen aus wie man vor dem Spiegel verschiedene Kleider an- und wieder ab-legt.
Das bringt mich zu der alles entscheidenden Frage, in der es in allen Teil-Werken von Max Frisch geht: Darf man sich von anderen ein Bild machen? Überhaupt!
Eines, dass den anderen festlegt? Ihn dadurch fesselt, gefangen nimmt und nicht mehr freigibt? Weil ich durch ein Ab-Bild, das ich mir von einem Menschen mache, ihn auch festlege, ihn einer bestimmten Kategorie zuordne, ihn in eine Schublade stecke.
"Du sollst Dir kein Bildnis machen" heißt es nach zwei Dutzend Seiten in Frisch`s Tagebuch zum Jahr 1946. "Kassandra, die Ahnungsvolle, die scheinbar Warnende und nutzlos Warnende, ist sie immer ganz unschuldig an dem Unheil, das sie vorausklagt? Dessen Bildnis sie entwirft? Irgendeine fixe Meinung unsrer Freunde, unsrer Eltern, unsrer Erzieher, auch sie lastet auf manchem wie ein altes Orakel. Ein halbes Leben steht unter der heimlichen Frage: Erfüllt es sich oder erfüllt es sich nicht. Mindestens die Frage ist uns auf die Stirn gebrannt, und man wird ein Orakel nicht los, bis man es zur Erfüllung bringt. Dabei muß es sich durchaus nicht im graden Sinn erfüllen; auch im Widerspruch zeigt sich der Einfluß, darin, daß man so nicht sein will, wie der andere uns einschätzt. Man wird das Gegenteil, aber man wird es durch den andern." [Tagebuch 1946-1949, S. 28, in Suhrkamp Quarto Max Frisch]
Ich glaube, Max Frisch geht es immer um diese Nah-Sicht, das Zoomen mit dem Makro-Objektiv auf den Mikro[Kosmos]: Die Nah-Aufnahme, das Detail des Lebens und die Menschen darin. Dabei richtet er das Objektiv auf sich selbst, geht von sich selber aus. Durch Na[c]h-Denken versucht er sich zu ent-blättern, sich und das andere, das Mensch-sein, Schicht für Schicht frei zu legen. Im Montauk gelingt ihm dies in faszinierender Weise. Ich habe die Erzählung erneut gelesen, sie wirkt nach einer ersten schrittweisen Auseinandersetzung, wenn sie erneut in einem Guß gelesen, noch intensiver.
[Na{c}h]Denken.
Max Frisch begann es vor über siebzig Jahren[!]. Öffentlich. In seinen Tagebüchern. Seine Nah-Sicht wuchs über all die Jahrzehnte seines Schreibens aus dem Ringen mit der Frage, mit der eigenen Sicht auf sich: WER bin ICH selbst?
Dabei schält[e] sich heraus, was Max Frisch im Laufe der Teile seines Gesamtwerks, in jedem einzelnen Roman, in jeder Erzählung, in jedem veröffentlichten Tagebuch, vorsichtig aus unterschiedlichen Perspektiven heraus schält, dass sich kein Bild[niss] zu machen ist!
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"Ich bin nicht Stiller" heißt es gleich im ersten Satz, im Einstieg zum gleichnamigen Roman, der Max Frisch einst berühmt machte. Vorbeugend?
Jedenfalls, gleich im ersten Satz, wird da klare Kante genäht: Klar gestellt, w e r ER n i c h t IST! Weder "er" - sein Protagonist, noch "er" - der Autor. Es wird unmissverständlich klar gestellt, dass man beide nicht miteinander vermischen darf.
Der Protagonist in dem gleichlautenden Roman ist Mister White aus den USA, sagt er jedenfalls, da am Anfang, als er in Untersuchungshaft genommen, weil alle anderen in dem Schweizer Ort ihn für den verschollenen Bildhauer Stiller halten. Dort bleibt er in Gewahrsam bis geklärt ist, wer er ist. Kein Wunder, dass er sich aufregt: "Ich bin nicht Stiller!"
Der ihm von Amts wegen bestellte Verteidiger bringt ihm Schreibhefte. Leere Hefte. Da soll er sein Leben hinein schreiben. "Sagen Sie einfach die Wahrheit, nichts als die schlichte und pure Wahrheit. Tinte können sie jederzeit nachfüllen lassen", meint der Verteidiger, der ihn von Anfang an für den Bildhauer hält. Und da beginnt die wilde Berg- und Talfahrt durch das Leben vom stille[rsche]n Mister White, weil der Anwalt ihm alle früheren Lebens-Personen bringt: Ist er Stiller oder nicht?
Sie alle sagen: JA. Er bleibt dabei: "Ich bin nicht Stiller!"
Ein aussichtsloser Kampf: David gegen Goliath – könnte das Thema dieses anderen Max Frisch-Werks lauten. Und doch verbirgt sich etwas anderes dahinter – was auch im Montauk drin steckt. Etwas, das hier auf den Wi[e]der[]orten in allen Kommentarsträngen, auch in meinen eigenen Einträgen zu diesem Lese-Experiment immer wieder aufscheint: WER ist WER im Montauk?
Wer ist wer ? Auch im Stiller, im Homo Faber – wenn man das Spiel mit der Identität in den Romanen und Erzählungen dieses Weltschriftstellers weiter treiben möchte.
Besonders interessant scheint die Identitätsfrage wieder auf im Gantenbein: "Mein Name sei Gantenbein" – heißt es dort schon im Titel des Romans. Wieder geht es um Identitäten, um Bildnisse, um Rollen. Die Protagonisten probieren verschiedene Rollen aus wie man vor dem Spiegel verschiedene Kleider an- und wieder ab-legt.
Das bringt mich zu der alles entscheidenden Frage, in der es in allen Teil-Werken von Max Frisch geht: Darf man sich von anderen ein Bild machen? Überhaupt!
Eines, dass den anderen festlegt? Ihn dadurch fesselt, gefangen nimmt und nicht mehr freigibt? Weil ich durch ein Ab-Bild, das ich mir von einem Menschen mache, ihn auch festlege, ihn einer bestimmten Kategorie zuordne, ihn in eine Schublade stecke.
"Du sollst Dir kein Bildnis machen" heißt es nach zwei Dutzend Seiten in Frisch`s Tagebuch zum Jahr 1946. "Kassandra, die Ahnungsvolle, die scheinbar Warnende und nutzlos Warnende, ist sie immer ganz unschuldig an dem Unheil, das sie vorausklagt? Dessen Bildnis sie entwirft? Irgendeine fixe Meinung unsrer Freunde, unsrer Eltern, unsrer Erzieher, auch sie lastet auf manchem wie ein altes Orakel. Ein halbes Leben steht unter der heimlichen Frage: Erfüllt es sich oder erfüllt es sich nicht. Mindestens die Frage ist uns auf die Stirn gebrannt, und man wird ein Orakel nicht los, bis man es zur Erfüllung bringt. Dabei muß es sich durchaus nicht im graden Sinn erfüllen; auch im Widerspruch zeigt sich der Einfluß, darin, daß man so nicht sein will, wie der andere uns einschätzt. Man wird das Gegenteil, aber man wird es durch den andern." [Tagebuch 1946-1949, S. 28, in Suhrkamp Quarto Max Frisch]
Ich glaube, Max Frisch geht es immer um diese Nah-Sicht, das Zoomen mit dem Makro-Objektiv auf den Mikro[Kosmos]: Die Nah-Aufnahme, das Detail des Lebens und die Menschen darin. Dabei richtet er das Objektiv auf sich selbst, geht von sich selber aus. Durch Na[c]h-Denken versucht er sich zu ent-blättern, sich und das andere, das Mensch-sein, Schicht für Schicht frei zu legen. Im Montauk gelingt ihm dies in faszinierender Weise. Ich habe die Erzählung erneut gelesen, sie wirkt nach einer ersten schrittweisen Auseinandersetzung, wenn sie erneut in einem Guß gelesen, noch intensiver.
[Na{c}h]Denken.
Max Frisch begann es vor über siebzig Jahren[!]. Öffentlich. In seinen Tagebüchern. Seine Nah-Sicht wuchs über all die Jahrzehnte seines Schreibens aus dem Ringen mit der Frage, mit der eigenen Sicht auf sich: WER bin ICH selbst?
Dabei schält[e] sich heraus, was Max Frisch im Laufe der Teile seines Gesamtwerks, in jedem einzelnen Roman, in jeder Erzählung, in jedem veröffentlichten Tagebuch, vorsichtig aus unterschiedlichen Perspektiven heraus schält, dass sich kein Bild[niss] zu machen ist!
Teresa HzW - 11. Mai, 11:54 - Rubrik [Post]Moderne
Anderer-seits:
Man darf, meine ich, denn es geht ja gar nicht anders. Allerdings soll man sich dabei stets bewusst sein, dass es Selbstbilder (Resonanzen) sind, in die der andere hineingestellt wird - Behauptungen über den anderen. Das hat mit der Wirklichkeit des anderen vorerst nichts zu tun. Man kann den anderen damit zugrunde richten oder aber fördern, wenn man ihn glauben machen kann, dass er so IST, wie's gesehen wird. Furchtbare Tragödien oder wunderbare Wachstumsschübe können sich daraus entwickeln.
Selbst-seits:
Die Frage "Wer bin ich selbst?" ist - aus einem bestimmten Denkwinkel betrachtet - unbeantwortbar, ja möglicherweise sogar hinderlich, weil hemmend. "Wer will ich werden?" erscheint mir als Frage nach dem Selbst wesentlich angemessener, weil sie Möglichkeit, Gestaltbarkeit offen lässt. Phyllis Kiehl schrieb in einer kurzen Geschichte den elektrisierenden Satz: "In die eigenen Behauptungen hinein wachsen, bis sie stimmen.". Das erfordert Mut, ganz sicher. Doch mit der Zeit gewöhnt sich Mensch daran, sich immer wieder neu zu behaupten, zu wachsen und nicht mehr zu fragen, sondern festzustellen: "Ich bin."
Welch' wunderbare Inspiration, liebe Teresa, Ihr Tagwerk!
erst aus der Spannung zwischen den „Bildern“, die andere und wir selbst von uns haben, entwickelt sich vielleicht die Persönlichkeit, zu der wir im Laufe des Lebens werden: aus der Eigenwahrnehmung vs. Fremdwahrnehmung.
Es ist, wie Sie schreiben: Selbst wenn man sich selbst kein Bild vom anderen machen möchte, man tut es unbewusst doch,. Man ordnet einen anderen in eine Kategorie [etwas was Frisch in seinen Büchern trefflich beschreibt] oder bürdet ihm eine bestimmte Behauptung auf. Schlimm finde ich, wenn Mitmenschen so unverbesserlich sind, dass Sie einen anderen zeitlebens in eine bestimmte Schublade stecken bzw. engstirnig an ihren Behauptungen festhalten und den anderen in "seinem Schachterl“ drin festhalten, darin für immer und ewig einsperren wollen, ihn nicht mehr herauslassen. Dagegen ist sich zu wehren, aufzubegehren. Da bleibt einem notfalls nichts anderes übrig, als zu gehen, sich ein anderes Umfeld zu wählen. ODER umgekehrt, dies zu tun, was Phyllis in Ihrem Blog [ich las es damals auch, blieb auch lange an genau jenem Satz hängen] schrieb: Selbst Behauptungen [über sich] aufstellen, solange immer wieder, bis sie stimmen, weil man hinein gewachsen ist. Allerdings frage ich mich: Ist das nicht eine andere Form der Selbst-Suggestion!?
Mir gefällt in diesem Kontext sehr gut ein Zitat von Tilopa, ein indischer Wegbereiter des tibetischen Buddhismus, das ich kürzlich fand: „Nicht die Erscheinungen binden dich, sondern dein Haften an ihnen bindet dich.“
Danke Ihnen sehr für Ihren Beitrag hier und auch noch für das Youtube-Video, das Sie jüngst bei einem anderen Montauk-Beitrag von mir zur "Paar-Schaft" fanden und einstellten. Es bringt kurz und knackig Frisch`s Verständnis dazu auf den Punkt.
Herzlich
Teresa,
die sich nun wieder ans Tagwerk macht ;-)