Montauk VI – Frisch[e] Sätze

Bei meiner Max-Frisch-Lese konzentriere ich mich nun auf: Besondere Sätze. Ungewöhnliche Worte. Interessante Ausdrücke. [Meine] Assoziative[n] Eindrücke dazu. Nachdenken auslösend.

Journal intime
So würde ich die neue Kontext-Wochenzeitung
bezeichnen, die seit einer Woche online ist und in gedruckter Form jeweils samstags der TAZ beiliegt. Sie erfüllt mich mit Stolz. Von [hiesigen] Stuttgarter Journalist[inn]en gemacht. Gut gemacht. Solider objektiver Jounalismus. Alte Schule.

I love you
Ich frage mich, ob jemand, der – wie Frisch - so minutiös [auf]schreibt in Wahrheit & Wirklichkeit, in seinem Innersten, nicht ein tief einsamer Mensch ist!? Ich mag mich auch täuschen, aber: Warum schreibt eine/r Tagebuch? Die Form – ob still mit sich allein in ein Schreibheft oder im Internet öffentlich – sei mal ganz dahin gestellt. Ich habe das [noch nie, bisher nicht] geschafft [trotz Tausender guter Vorsätze, zumindest nicht regelmäßig durchgehalten].

Montauk
Links und rechts ist Heide, öde, da und dort Gebäude, eine Anthologie scheußlicher Nicht-Architektur.
Endlich erfährt ein[e] Lesende[r] nähere Umstände zur Planung des Wochenendes. Hintergründe:
Er hat die Landkarte besorgt, Lynn alles andere: National Car Rental; Gurney`s Inn, Reservation mit telegrafischer Anzahlung. Ihre Bitte, nicht daneben stehen zu müssen, während er sie im Hotel einschreibt unter seinem Namen….Zimmer mit Loggia und Blick auf die nahe Brandung. Zwei Betten getrennt durch ein Tischchen mit Lampe. Sie treten sofort auf die Loggia hinaus…. auf dem Atlantik ein Glimmer von Sonne. Lynn schlägt einen Spaziergang vor, und er ist gerne einverstanden.

Lynn wird sein Laster nicht kennen lernen. Dazu fehlt die Zeit. Es braucht eine Ehe, eine lange damit es zum Vorschein kommt…
Auf der nächsten und übernächsten Seite erfahren wir mehr über "sein Laster". Es sind zwei: "male chauvinism" und "Hysterie" [eher Jähzorn, würde ich sagen, wenn sich einer im Zorn den vollen Mülleimer auf den Kopf stellt, wie der Erzähler-Protagonist in gedanklicher Rückblende an eine Szene einer Ehe]

Die Frau, mit der er zehn Jahre verheiratet war, wirft ihm vor, dass er in zehn Jahren nichts zu ihrer Selbstverwirklichung beigetragen habe. Sie spricht in aller Ruhe. Ich habe sie auf Händen getragen: die bequemste Art umzugehen mit einer Frau, und die schlimmste Art.
Der goldene Käfig. Eine Zeit lang schön und bequem. Irgendwann tritt Langeweile, Leere, Liebesverlust ein.
[UND]
Was waren das für Zeiten, als die Frau noch den Mann dafür verantwortlich machen konnte[durfte], dass "ihre Selbstverwirklichung seine Sache ist". Der Satz kann sicher nur von einem Schweizer geschrieben werden!
Schließlich wurde auch erst drei Jahre vor seinem Long Island Abenteuer, genau genommen am 7. Februar 1971 [!!!] das Frauenstimmrecht [= Stimmrecht und Wahlrecht!] in der Schweiz durch eine eidgenössische Abstimmung des männlichen Teils der Bevölkerung [!]eingeführt. Erst damit erhielten die Schweizer Frauen ihre vollen Rechte als Bürgerinnen.

Komm, folge mir, ich leite Dich!
DAS Funktionieren hängt [auch heute noch] ab vom Frauentyp… ihrer Jugend und seinem Geldbeutel.

Kein Wort von der Frau, die heute ziemlich allein lebt.
Er[Frisch] erzählt Lynn beim Strandspaziergang von Mykonos, der griechischen Insel… jedoch nicht von der Frau, mit der er einst seine Zeit dort verbrachte.
"Wieviele Frauen hatte Frisch eigentlich?", frage ich mich. [Weiß das hier jemand? Zufällig?] In Gedanken zähle ich: zwei Ehefrauen, mehrere Geliebte und Lebensgefährtinnen, darunter sog. Lebens-Abschnitts-Partnerinnen [LAP] – wie Ingeborg Bachmann oder Alice Locke-Carey, die Lynn ihre Autobiografie lieh.

Er berichtet nicht von der schrecklichsten aller Todesarten.
Am Strand denkt er, während Lynn sich salbt, nicht nur an die Reisen nach Mykonos, sondern auch an Rom. Er erzählt Lynn von Rom, der Stadt, und was er in Rom gesehen und gehört hat in fünf Jahren.
Er berichtet nicht von den "schweren Verletzungen durch einen Brand, der beim Einschlafen mit einer brennenden Zigarette ausgelöst wurde. Aufgrund ihrer schon seit Jahren bestehenden starken Abhängigkeit von Beruhigungsmitteln (Barbituraten), von der die behandelnden Ärzte zunächst nichts wussten." Sie starb schließlich an den "tödlichen Entzugserscheinungen (sog. Konvulsionen, die epileptischen Anfällen glichen) am 17. Oktober 1973 im Krankenhaus Sant'Eugenio", in Rom.
Dieser vor-letzte Satz auf Seite 1581 beinhaltet eine Anspielung auf die Bachmann, die in der Nacht vom 25. auf den 26. September 1973 in ihrer römischen Wohnung schwere Verletzungen durch einen Brand erlitt. Er wurde beim Einschlafen mit einer brennenden Zigarette ausgelöst. Die italienischen Behörden ermittelten gar wegen Mordverdachts. Die Ermittlungen wurden jedoch am 15. Juli 1974 eingestellt. Kein Wunder, dass Frisch im Frühjahr 1974 auf Long Island immer wieder an Ingeborg Bachmann denkt und in seinen gedanklichen Einschüben auf diese Partnerschaft anspielt[da ihr Tod noch nicht lange her]. Ihre Tablettenabhängigkeit gilt heute als mit ursächlich für den tödlichen Unfall.
3365 mal gelesen
Teresa HzW - 15. Apr, 18:11

Der Text in kursiver Schrift entstammt den Seiten 1573 bis 1581 in Max Frisch, Montauk, erschienen in der Sammlung Suhrkamp Quarto.

Der Buecherblogger (Gast) - 18. Apr, 09:14

Fr(I)s(ch)

Das Ich ist keine zuverlässige Größe, aber was ist schon zuverlässig beim Schreiben?

Teresa HzW - 18. Apr, 12:28

@Bücherblogger

Wirklich eine spannende Frage, lieber Bücherblogger, W E R ist das "ICH" in Montauk!? Ich meine mittlerweile, nachdem ich gut zwei Drittel der Tagebucherzählung gelesen habe, drei "[F]frische" "Ich" gefunden zu haben (sehen Sie dazu auch meinen heutigen Eintrag Montauk VIII) ;-)

Ihre interessante Frage werde ich nur zu gern nochmals aufgreifen, dann wenn ich Montauk ganz gelesen [ich hoffe, ich schaffe es noch vor Ostern, jedoch versprechen möcht`ich`s nicht ;-)].
Herzlich Teresa
steppenhund - 20. Apr, 23:47

Am passendsten sind meine momentanen Eindrück wohl hier angebracht. Im Flug von Belgrad nach Wien konnte ich ein bisschen weiterlesen.
Ich markiere mir ein paar Sätze im Buch an, mit Kugelschreiber. Das empfinde ich eher sakrilegisch, doch es ging nicht anders.

Ich leugne nicht meine Schuld; sie ist mit langen Briefen, die der erwaschsenen Tochter meine damalige Scheidung erklären, nicht zu tilgen. Sie wird gebraucht, unsere Schuld, sie rechtfertig viel im Leben anderer.
... sie rechtfertig viel ... halte ich für eine bemerkenswerte Aussage. Darüber schreiben andere hunderte Seiten lange Romane, doch so klar wird es nie ausgesprochen. Wer würde in der Essenz von Schuld etwas Positives erkennen?

... ein deutscher Zöllner, nachdem er meinen Paß gesehen hat, möchte gar nicht in meine Koffer schauen, sondern behilflich sein; er kennt nicht bloß den Namen, sondern erinnert sich wohl an ein Stück, das ihm gefallen habe: DER BESUCH DER ALTEN DAME.
Der Londoner Paßprüfer schafft das ganze auch ohne Verwechslung und es freut Frisch. Das kann ich mir gut vorstellen.

Noch schöner und berührender ist folgende Schilderung:
... ein Sowjetbürger, ein jüngerer Mann, der 1968 auf dem Roten Platz demonstriert hat und den ich neulich in Gesellschaft zufällig getroffen habe, übermittelt Grüße aus einem sibirischen Arbeitslager, Dank im Namen von Insassen, die ich nie sehen werde; ...

Frisch beschreibt den Ruhm, den ich als echt empfinde. Es gibt viele Menschen, die seinen Namen kennen, doch jeder kennt ihn individuell, weil sie etwas gelesen haben. Beim Lesen ist man alleine und arbeitet quasi am Ruhm des Schriftstellers mit. Ich setze das in den Gegensatz zu dem Ruhm von - sagen wir - Lady Gaga oder Madonna. Jener Art von Ruhm ist auch langlebiger. Bei manchen "berühmten" Personen stellt er sich manchmal ja auch erst nach dem Tod der Betreffenden ein.

... die öffentliche Frage: Stimmt es, Herr Frisch, daß Sie die Frauen hassen? Er schreibt ja keine Antwort - außer indirekt. Dazu habe ich noch zu wenig von Montauk gelesen. Ich könnte mir vorstellen, dass Frisch die Erotik hasst, in dem Sinn, den ich schon in einem anderen Kommentar beschrieben habe. Vielleicht ärgert er sich darüber, dass er sich mit dem Thema Frauen auseinander muss, weil er als Mann ihre Reize empfindet. Könnte ich mir gut vorstellen, auch wenn ich da eine eigene Projektion preisgebe.
Gleich darauf wird es noch interessanter: Verhältnis von Lebensalter und Unwissen: welche mathematische Kurve ergibt das? Trotz zuwachs an Wissen schnellt die Kurve mit dem Lebensalter: das Unwissen wird unendlich. Ich glaube zwar, dass hier das Wort "hinauf" fehlt, doch der Gedanke an sich ist bestechend. Und wie mir scheint, sehr gut nachvollziehbar.

Die Geschichte mit Thesy kommentiere ich jetzt nicht außer im Kontext zu der weiter oben gestellten Frage, wie viele ICHs da vorhanden sind. Ich würde unterschiedliche Rollen identifizieren können, doch insgesamt komme ich doch bisher auf ein sehr konsistentes ICH. Ist alles nachvollziehbar.

Verstehbar in Bezug auf eine Person ist alles, was ich bisher gelesen habe. Aber vielleicht erlebe ich ja noch meine Überraschungen.

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