Saludos a Argentina - Rayuela IX

Heute Nacht träumte ich… was an und für sich nichts Ungewöhnliches… jeder Mensch träumt nachts mehr als einmal… ungewöhnlich war der Inhalt des Traumes, der mich so trunken machte, dass ich beim Erwachen nicht wusste, wer ich bin, wo ich war, denn im Ohr tönte mir der Klang der Stimme:
[soy tu angel nocturno
que vela por tus sueños
yo soy contigo cuidandome,
llevandote al cielo en mis alas]


ich bin dein engel in der nacht,
der über deine träume wacht,
ich bin bei dir, pass gut auf dich auf,
trag dich auf meinen flügeln in den himmel hinauf.

Der Himmel, das "OBEN", "Oben bleiben"…
Manchmal besteht die Welt lediglich aus oben und unten. Dazwischen ist nichts. Nur Luft. Weite.
Im Flugzeug, von einer Twin-Otter aus, hatte ich in meinem Traum die Schönheit des "OBEN" von oben im Blick: die Weite, die sich unter einem ausbreitet. Straßen, die einem silbrig glänzend zu Füßen liegen, Wolkenflöckchen, die wie zum Gruße am Seitenfenster vorbei flocken, um den Rumpf des Himmelvogels wabern, sich vor einem wie Berge auftürmen.

Ich öffnete die Flugzeugtür und hüpfte hinaus. In die Wolkenberge hinein. Hüpfte herum wie ein Kind auf dem Trampolin. Irgendwann spannte ich die Arme auseinander. Wie ein Kondor glitt ich durch die Lüfte dahin, unter mir die Wasseradern des Lebens, über die grünen Lungen und Mutters Boden schwebend. Bis irgendwann mein pfeilschnelles Auge die weite Steppe, blaue Gletscher, immergrüne Täler entdeckend, hinab stößt, in das Land, das jeden verändert, der es betritt:
Wo Du von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang reiten kannst, bis Du einen Menschen, den nächsten Nachbarn triffst. Wo jeder Arbeitstag mit dem gleichen Ritual endet, einem bitteren, koffeinhaltigen Mate-Tee. Wo prachtvolle Kolonialbauten mitten in der Pampa liegen und nicht nur vom Reichtum ihrer Bewohner, sondern auch vom Stolz und von der Sehnsucht nach Europa künden. Mit Anbruch der Nacht klagend das Bandoneon ertönt und sich vor aller Augen das leidenschaftlichste Duell zweier Menschen abspielt. Im Land der sechs Kontinente: Argentina!

[Allí estuvieron ciento y la madre]
Es waren Himmel und Menschen da.
Und
Julio Cortázar.

Ein Land mit grenzenloser Freiheit, in dem manche Regionen so groß wie die Bundesrepublik und mit nur so vielen Einwohnern wie gerade mal Hamburg sind. Kein Wunder, dass Cortázars Phantasie hier blühte:
"FREIHEIT! Das ist, wenn die Phantasie ungehindert in alle Richtungen reisen darf" – soll er einmal gesagt haben.

Und seine Phantasie ritt mit ihm, von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang, galoppierte wie ein wilder Gaucho durch die Unendlichkeit der phantastischen Welten. Das Fantastische: Die Welt im Kopf.
Das Kopfkino, das zu laufen beginnt, wenn Du Rayuela aufschlägst und ein Kapitel zu lesen beginnst: beim ersten Satz, sich fortsetzend über den nächsten Absatz hinüber auf die andere Seite, die nächste, nur noch den folgenden Absatz, dann doch noch einen weiteren…

Irgendwann holt Dich die Realität wieder ein, Du wachst auf, landest in der Gegenwart:
[La Rayuela]
vom Himmel in die Hölle hüpfend – im Herz des Realismus, im Alltag, ankommend.

Cortázar pendelt permanent zwischen beidem, packt die Koffer für die Reise in die Phantasie und landet im harten Alltag an dunklen Straßenecken, denn das Leben ist für einen argentinischen Bohemien wie ihn nicht einfach im Paris der 1950er Jahre. Einen, der aus dem Phantasialand Argentina in die Wirklichkeit Europas, nach Paris, flieht.

[Eres más dulce que un ángel]
Du bist süßer als ein Engel.

[Eso no va por ti]
Damit bist du nicht gemeint.

Rayuela – ein Verwirrspiel, zumal, wenn ein Lesender, wie ich, irgendwo in der Mitte des Buches beginnt und dann den Weg heraus aus dem Labyrinth sucht. Ich wandle auf dem schmalen Grat zwischen Realität und Fiktion, mich fragend, wo endet meine Realität, wo beginnt Cortázars Fiktion.

Paris, wo Kapitel 1 bis 56 spielen, eigentlich ein romantisch verklärter Ort (siehe Melusines Eindrücke beim Gipfeltreffen in Paris mit dem Bücherblogger) und doch so gnadenlos unbarmherzig wie das Alltagsleben selbst. Julio Cortázar will "einen in die Grenzbereiche der Vorstellungen" führen. Ich versuche D A S auch… mit I H N E N liebe Leser und hoffe, es glückt mir, bisweilen…

Doch nun lehnen Sie sich erst einmal entspannt zurück und schauen dieses Video, das ich in der 3SAT-Mediathek fand (daher ließ es sich nicht hierher kopieren) und danach: "Träumen Sie der Sonne entgegen!"

http://www.3sat.de/mediathek/mediathek.php?obj=20192&mode=play

Noch mehr über Julio`s Heimat Argentinien finden Sie auf 3-SAT diese Woche… SEHR sehenswert!
2464 mal gelesen
Der Buecherblogger (Gast) - 23. Sep, 13:13

Die Autonauten auf der Kosmobahn

Sie schreiben ja schon fast so gut wie Cortàzar, keine Ironie! Jedenfalls breche ich auch mit Ihnen gern in die "Grenzbereiche der Vorstellungen" auf. Den Buchtitel der Autobahnreise 1982, von dem auch im 3-SAT-Film die Rede ist, würde ich gern nachreichen:
Julio Cortázar/Carol Dunlop: "Die Autonauten auf der Kosmobahn". Eine zeitlose Reise Paris-Marseille. Aus dem Spanischen übersetzt von Wilfried Böhringer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 360 S., geb., 39,80 DM.

Zur Zeit scheint das Buch leider nicht verfügbar zu sein, ob es eine Neuauflage gibt weiß ich nicht, vielleicht sollte man den Suhrkamp-Verlag einmal anschreiben. Ich lese ja nun "Rayuela" und dazwischen den "Lumpenroman", was mir auffällt ist dieses Überschäumende des Erzählens, aber während Cortàzar in tausend Farben schwelgt, kontrastiert dazu gerade im Lumpenroman, aber auch sonst bei Bolaño eine nüchterne Erzählweise. Aber es gibt viele Gemeinsamkeiten, z. B. die Ironie, die Ausflüge in den Surrealismus, das Magische zwischen den Zeilen. Ich möchte nicht wissen, wieviel der Jüngere auch dem Älteren verdankt.
Wie immer einen herzlichen Gruß

Teresa HzW - 26. Sep, 13:00

Muchas gracias

Lieber Bücherblogger,

es scheint ein „wichtiges Merkmal der lateinamerikanischen Literatur dieses Jahrhunderts, dass sie das für die moderne Literatur überhaupt zentrale Thema der gefährdeten Identität des individuellen Subjekts mit der – weniger modern anmutenden – Frage nach ihrer Verankerung in den kollektiven Identitätsvorstellungen des Volkes, der Nation oder des durch sein gemeinsames historisches Schicksal verbundenen Kontinents verknüpft.“ Dieser geistreiche Satz stammt nicht von mir, sondern ich fand ihn im Vorwort eines sehr interessanten Buches über „Lateinamerikanische Identitätsentwürfe“ von Wolfgang Matzat, erschienen 1996, im Gunter Narr Verlag Tübingen. Der Autor setzt sich darin essayistisch mit den verschiedenen Versionen lateinamerikanischer Identität(en) auseinander. Sehr spannend, was Matzat schreibt. Auch irgendwo anders habe ich bereits vor Tagen gelesen, dass die Erzählweise argentinischer Autoren des 20. Jahrhunderts in engem Kontext zur „Geschichtslosigkeit und Kommunikationsunfähigkeit des eigenen Landes Argentinien“ steht (vermutlich bedingt durch die Militärdiktaturen) und in Beziehung zu setzen ist zu der Sehnsucht nach dem europäischen Kontinent (was vermutlich mit der Herkunft vieler Argentinier zusammen hängen könnte, da viele aus Familien stammen, die im Sog der europäischen Auswanderungswellen am Ende des 19. Jhdts. und zu Beginn des 20. Jhdts. in das Land gelangten).
Ich hoffe sehr, dass über die Merkmale argentinischen Erzählens während der Frankfurter Buchwoche durch die Berichterstattung über die Bücher dieses Landes mehr zu erfahren ist.

Muchas gracias por el complido y me alegro mucho!
Herzlich
Teresa

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