Ein moderner Roman...

"Ich bin davon überzeugt, dass der moderne Roman auch eine moderne Form braucht." schrieb Aléa Torik gestern in ihr Blog.

Ein Satz, der wohl jede/n umtreibt, der sich ernsthaft oder von Berufs wegen mit dieser Frage auseinander setzt:
Die Frage, die mich (als Nicht-Literaturwissenschaftlerin) am meisten beschäftigt:
WAS heißt "modern"?
Was versteht man unter "Moderne"?

Ist denn nicht alles, zum Zeitpunkt des Schreibens, wenn sich ein Schriftsteller einer bestimmten Thematik stellt, "modern"?
Und wird es "posthum", also wenn ich 10 oder 20 Jahre später auf eine Zeit oder ein bestimmtes Werk blicke, wird es in der Nachhinein-Betrachtung nicht einer bestimmten Epoche, einem bestimmten Trend, einer bestimmten Generation zugeordnet!? Weil diese Zeit plötzlich eine bestimmte Charakterisierung erhalten hatte.

Nähert man sich dem Begriff der "Moderne" oder dem, was als „modern“ eingestuft werden soll, leichter an, wenn man das Thema, um das es geht, in ein bestimmtes Genre einzuordnen versucht? Oder ist das eine (etwas als "modern" einstufen zu wollen) wie das andere (es einer bestimmten Genre-Schublade einordnen zu wollen) wenig tauglich? EBEN weil das, was als "modern" zum Zeitpunkt der Gegenwart gilt, schon morgen in der Rückschau nicht mehr "modern", sondern bereits "postmodern" ist!?

Eine ganz andere Frage ist die nach der "modernen Form"! Ist die "moderne" FORM an der ART des Erzählens festzumachen (ich, personal, auktorial) – wie es vor einigen Wochen einer der Bachmannpreis-Bewerber, Aleks Scholz, versuchte, als er seinen Stoff aus der "Google"-Perspektive erzählte!? Und - auch deshalb - den Ernst-Willner-Preis mit seinem Text "Google Earth" gewann? So ließ Hubert Winkels, einer der Juroren, in seiner Laudatio zu diesem Preis auch die Gründe für die Auszeichnung dieses Textes wissen: "In dem Text "Google Earth" werde eben nicht über das "Innenleben der Helden" geredet, sondern in einer "räumlichen Überperspektive" an die Wirklichkeit des Erzählten "herangezoomt"." Als "naturgeschichtlich operierenden Text", bezeichnete Winkels diesen Text. Es werde nicht die Geschichte der Figuren selbst erzählt, sondern was erzählt wird sind die "Raster oder Pixel", die die Geschichte hervorbringen. Damit lenke der Autor den Blick auf die "Formprinzipien" selbst." (siehe link hinter Laudatio)
Die ausführliche Jury-Diskussion zu diesem Text ist hier zu finden.

Kann der Roman, der in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert existiert, überhaupt in der Druckversion eine moderne FORM erhalten? Wenn JA, Was wäre dann die "moderne FORM"? Ein Roman, der im SMS- oder E-Mail-Stil geschrieben ist?

Immerhin, was das rein Formale anbelangt, scheint mir die Antwort im Zeitalter der Digitalisierung und der Medienwelt einfacher: Für mich ist ein Roman, der (nur) als E-Book erhältlich ist beispielsweise noch lange kein "moderner Roman".
Egal ob es sich um einen Roman oder seine kleineren Schwestern Novelle und Erzählung handelt: Ich möchte auch keinen längeren Text im Fitzelformat eines normalen Handy-Displays mittels Leselupe entziffern und mir die ohnehin kurzsichtigen Augen noch mehr verderben.

Eine "moderne Form" ist für mich hingegen, wenn ein/e Autor/in ihre/seine Leser an der Entstehung eines Romans via Weblog oder Website teilnehmen lässt, indem etwa der gesamte „Roman“ über diese Webtechnologie entwickelt wird, wie es beispielsweise Elfriede Jelinek einmal gemacht hat.
Allerdings sind wir bei dieser "modernen Form" des Schriftstellerns nicht ganz schnell bei der Frage der „Selbstausbeutung“, beim Urheberrecht und bei der Frage nach einer Kulturflatrate… oder einem „Lese-Abo“ (damit es eben nicht in prekärer Selbstausbeutung publizistisch Tätiger endet)!?

Insofern steckt in dem oben zitierten Satz eine sehr interessante These, die es wert wäre, diskutiert zu werden, hier wie da.
3852 mal gelesen
Alea Torik - 3. Aug, 22:42

Liebe Teresa,

dann fangen wir doch gleich einmal bei dir damit an.

Mit meiner These, die noch eher eine Behauptung war, meinte ich nicht, dass jetzt jeder Roman seine eigene Form erfinden muss - dazu wird der Formenreichtum nicht hinreichen - sondern ich wollte lediglich sagen, dass der moderne Roman seine Form bedenken und reflektieren muss. Dass er eine Auseinandersetzung mit dem Thema „Form“ haben muss. Dass mussten die prämodernen Romane in dieser Intensität nicht. Der Roman, den ich gerade lese und zu dem es sicher bei mir auch eine Besprechung geben wird - Benjamin Stein, Die Leinwand – ist ein dos-a-dos, mein eigener Roman ist eine mise en abyme - Erzählung, wo Rahmen- und Binnenerzählung einander bedingen. Das sind beides keine Neuerfindungen, aber in prämodernen Erzählformen würden wahrscheinlich sowohl Benjamin Steins als auch mein eigenen Roman konventioneller erzählt werden, also nach eher klassischeren Erzählschemata.
Aléa

Teresa HzW - 6. Aug, 22:28

Liebe Aléa.

prä-moderne Romane hatten zu ihrer Zeit sicher andere Arten der Auseinandersetzung – vielleicht mehr politischer oder religiöser Natur - von denen wir, in unserer heutigen „modernen“ Zeit jedoch nichts mehr wissen (können), es sei denn, man stellt dem Lesevergnügen eines bestimmten Romans die Beschäftigung mit der Geschichte der damaligen Zeit voraus.

Ansonsten auch ich lerne gerne dazu, daher interessiert es mich sehr, aus berufenem Munde, zu erfahren:
Was ist ein "dos-a-dos"? Ein Rücken-an-Rücken wovon, wozu? … als Nicht-Literaturwissenschaftlerin tippe ich auf einen Fachausdruck aus der Literaturwissenschaft? Was ist ein "mis-en-abyme"?

Herzlich
Teresa
otto (Gast) - 4. Aug, 15:23

Substanz und Form

Form ohne Inhalt finde ich hohl, und Inhalt ohne Form finde ich gewöhnlich, höchstens journalistisch, aber nicht literarisch. Aus literarischer Sicht lohnt es sich nicht, über „Leergut“ zu reden (Formen), ebenso wenig wie es sich lohnt, über einzelne Inhalte und Methoden zu reden. Das Problem ist ein ganz anderes: Was ist die Substanz eines Werkes? Worin besteht sie? Hier bin ich bei dem, was ich die Art und Weise der Sicht der Erzählerinstanz(en) auf die Welt und ihre Dinge nenne – die ihr zugrunde liegende Philosophie.

In der Literaturgeschichte lässt sich sehr genau nachweisen, dass neue literarische Formen immer der Ausdruck einer veränderten Weltsicht waren – teils von Subkulturen. Die Literatur des 18. Jahrhunderts ist aus der fundamentalen Kritik an der Weltsicht des 17. Jahrhunderts entstanden: Der geistige Überbau der optimistischen Aufklärung hat die pessimistische Vanitas des Barock in Stücke gehauen, und später folgten Klassizismus und Romantik und taten dasselbe mit der Aufklärung. ETA Hofmann, Goethe, Schiller, Eichendorff, Heine usw. waren keine Autoren, die nur reihenweise gute Plot-Ideen hatten oder neue Formen ausprobierten, vielmehr brachten sie mit ihren Werken die neue Weltsicht zum Ausdruck, zum Beispiel den Megatrend hin zum bürgerlichen Selbstbewusstsein. Ein „Werther“ hätte mit barocker Weltsicht, barocker Schere im Kopf, nie geschrieben werden können, ebenso wie ein romantischer Autor im Barock nie verstanden worden wäre.

Ich denke, dass Leute, die Autoren/innen sein möchten, sich sehr genau darüber im Klaren sein sollten, welche Weltsicht sie in ihren Texten (auch unterschwellig) zum Ausdruck bringen, und wie sie diese literarisch gestalten, das heißt mit existierenden Formen literarisch kommunizieren. Keine Geschichte läuft von selbst. Ihr Motor ist die philosophische Substanz. Sie bestimmt auch die Form.

Teresa HzW - 6. Aug, 23:03

Lieber Otto,

wenn man die Maßstäbe des Qualitätsjournalismus anlegt, orientiert gerade journalistisches Schreiben seine Inhalte an bestimmten (Darstellungs)Formen. So folgt der Inhalt einer Reportage anderen Formerfordernissen wie der Inhalt eines Features, gleiches gilt auch für die Meinungs orientierte Form der Glosse oder des Kommentars.

Anders in der Literatur… ich habe eine sehr schöne Stelle in einem Buch über die Gruppe 47 gefunden, in der Hans Werner Richter über die Anfänge der Gruppe (auf S. 76) Folgendes reflektiert: „Wir glaubten nicht an die Wiederkehr des Alten. Und so wie wir die politischen Konzepte der Vergangenheit für nicht mehr realisierbar hielten, so waren auch die literarischen Schulen der Vergangenheit für uns veraltet. Ja, ich selbst hielt die Zeit der literarischen Revolutionen, vom Naturalismus bis zum Expressionismus, für endgültig abgeschlossen. Eine neue Literatur mußte nach diesem Zusammenbruch entstehen, nicht aber eine neue Schule, die nur die Formexperimente der alten fortsetzte.“ (Hans Werner Richter, in Hans Werner Richter und die Gruppe 47, herausgegeben vom Langen-Müller-Verlag, 2007, ISBN 978-3-7844-3114-7).

Herzlich
Teresa
MelusineB - 13. Aug, 13:30

Ich stimme Ihnen völlig zu, dass Form und Inhalt einander bedingen (sollten). Auch, dass jede formale Entscheidung eine bestimmte Weltsicht voraussetzt und evoziert, ist wahr. Jedoch erzählen Sie - aber vielleicht missverstehe ich das auch - die (Literaturgeschichte) hier als eine Geschichte des "Fortschreitens", um nicht zu sagen des Fortschritts. Es ging/geht aber auch immer etwas verloren. Denken Sie nur - um zum Barock zurückzukommen - an das Verhältnis Bild/Text in der Emblematik. Deshalb kann ein Blick zurück immer auch genutzt werden, um Formen (wieder-) zu finden. Das muss nicht zwingend in den Eklektizismus führen.

"...und sie sprachen untereinander"

@Otto:"Sicht der Erzählerinstanz"; Aléa: Bolaño; Teresa: Moderne in der Literatur

ich bin der böse Bube, der Aléa "schon zweimal so blöd zusammengefaltet hat". Vielleicht kann man diese Benennung auch als Auszeichnung verstehen, wer weiss. Ich schreibe dies frei von meiner geschenkten Leber weg, also unsortiert. Dem Otto möchte ich zustimmen, weil er versucht den Fokus des Modernen auf eine Aussage und das Inhaltliche zu richten. Vor Jahrzehnten habe ich einmal einen Funkkollegkurs "Literarische Moderne" absolviert, dort wurde Baudelaire, also ein Lyriker, als der Beginn einer Moderne bezeichnet, also ca. 1860. Modern ist also der Umbruch im Bewußtsein des Schreibenden, Form kann zwar auch modern wirken, hat aber eine wesentlich kürzere Halbwertszeit. Deshalb erreicht mich visuelle Poesie auch immer nicht wirklich. Das Spiel der Buchstaben mag seinen Reiz haben, aber es wühlt mich nicht auf. "Google Earth" habe ich im Fernsehen gehört und gesehen, aber das Interessante schien mir weniger die Perspektive des Erzählers, das war nur ein Gimick, er hatte mit seinen Beobachtungen auch etwas zu erzählen. Ich lerne ja immer gern Fremdwörter dazu oder etwas über ihren Gebrauch, wenn ich sie schon kenne. Also "dos à dos" oder "mise en abyme", beides ja äußerlich Verschachtelungsformen, machen mir noch keinen modernen Roman aus. Die Postmoderne mit ihren Versatzstücken und Genrespielereien, also "literarisches Multikulti" ist eigentlich auch schon wieder vorbei. Deshalb bleibt auch bei mir nur die "Erzählerinstanz" übrig. Formen werden sich immer ändern und jede wird eine zeitlang modern sein, bis sie von einer anderen Moderne abgelöst wird. Ein Bewunderer Bolaños bin ich deshalb, weil ich bei diesem Autor etwas Neues als Erzähler spüre. Ich habe schon an anderer Stelle versucht, dies zu beschreiben, nannte es dort "Autoren-Innerer-Monolog". Für mich heißt das, ein Autor schreibt zwar eine fiktive Geschichte, aber er ist sich in jedem Moment seines Schreibens bewusst, nur eine fiktive Geschichte zu schreiben und er schreibt sie deshalb nicht mehr als eine hermetische Geschichte, sondern jeder Satz atmet etwas von der Zerrissenheit, Realität aus der Erinnerung abzubilden, das Fiktive zu schaffen und doch zu wissen, das der Autor letzlich nur sich selbst beschreiben kann. Bei Bolaño hat die Ahnung seines eigenen Todes jedes seiner Bücher beeinflusst. Ein Autor sollte schreiben, als wäre jeder Satz möglicherweise sein letzter, klingt pathetisch. Den Schreibmoment, das temporäre Bewusstsein beim Schreiben mit in den Schreibprozess selbstreflektiv einfliessen zu lassen, ich glaube an manchen Stellen in Aléas
Blog habe ich auch so etwas gefunden. Bei aller enormen Konstruktion, gerade von "2666", das ein ganzes Jahrhundert um fassen will, die schnelle Inspiration findet man dort überall. Ich finde es schön, dass Sie, Teresa, einen Satz Aléas zum Anlass genommen haben, über die literarische Moderne zu reflektieren. Noch auf ein Wort: einen "Stoff pitchen", den Gebrauch müssen sie erklären, Golf oder DJ, einem Annäherungsversuch an Aléas neuen Roman stände ich auch sehr interessiert gegenüber, aber ich befürchte, sie ist geheimniskrämerisch und das ist auch gut so.
Ob es ihren alten Roman "Berlin am [Schwarzen] Meer irgendwo vollständig zu lesen gibt?

Teresa HzW - 6. Aug, 22:37

Lieber BUECHERBLOGGER.

das mit dem „Spiel der Buchstaben“ ist für mich eher etwas, was ich dem Bereich der Graphiker zuordne, auch wenn es mich immer wieder erstaunt, was Angehörige dieser Berufssparte graphisch aus dem „Spiel mit den Buchstaben“ oder Worten herausholen können.

Allerdings: es gibt Schriftsteller wie auch Schriftstellerinnen, spontan fallen mir hier sowohl Hans Magnus Enzensberger wie auch unsere aktuelle Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller ein, die dieses „Spiel der Buchstaben“ hervorragend beherrschen. Der eine mit seiner „Wörtermaschine“, die ich vor zwei Jahren bei einer Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne selbst bedienen konnte und doch beeindruckt über die Wortschöpfungen war, die sie zu Tage brachte. Die andere mit ihrer „Cut-up“-Technik, dem Auseinanderschnipseln von Wörtern und neu Zusammenlegen, bei dem sich erstaunliche Sätze bilden lassen. Allerdings würde ich einen Roman, der auf diese Weise entstünde, dennoch nicht ohne weiteres als „modern“, eher als experimentell, bezeichnen. Womit ich wieder bei OTTO bin, der sehr richtig anmerkte, dass es Form ohne Inhalt, im Sinne von Substanz, nicht geben kann.

Was das „literarische Multikulti“ betrifft, bin ich (noch) etwas unschlüssig und im Nachdenken begriffen. Ich frage mich, ob wir – gerade aus der Zeit verzögerten Leser-Wahrnehmung heraus – demnächst doch wieder eine Renaissance der alten Postmoderne erleben könnten?

Seinen „Stoff pitchen“ – das habe ich auch erst kürzlich von Verlagsmenschen gelernt - heißt, die Geschichte seines Romans (bzw. den Stoff des Romans, an dem man gerade schreibt), auf einen einzigen, wesentlichen Satz zu verdichten, in einem einzigen Satz wieder zu geben. Den „Stoff pitchen“ ist insofern etwas anderes als den Plot wieder geben. Der Ausdruck selbst kommt übrigens aus der Werbung, für mich erstaunlich, dass er nun den Weg in die Welt der Buchherstellung findet.

Herzlich
Teresa
Teresa HzW - 5. Aug, 17:41

Liebe KommentatorInnen,

ich freue mich sehr über Ihr/Euer Feedback zum Eintrag "ein moderner Roman" und werde am morgigen Freitag ausführlich allen antworten; da ich heute unterwegs bin und schlechte Internetverbindung habe.

Herzlich
Teresa

Teresa HzW - 6. Aug, 22:04

Erzählerinstanz, philosophische Reflexion und Autoren-Innerer-Monolog - als Teil der modernen Form des Romans!?

Liebe Aléa, lieber Otto, lieber Bücherblogger,

vielen Dank für Deine und Ihre Kommentierungen.

Heute die versprochenen Antworten, die ich in einem (langen) Kommentareintrag wieder geben möchte. Einerseits, weil Sie alle miteinander Gedanken äußerten, die sich idealerweise am besten beantworten lassen, wenn sie zueinander in einen Kontext gesetzt und gemeinsam miteinander reflektiert werden. Andererseits, weil ich versuchen möchte, in meinem Blog, auch zur Kommunikation untereinander anzuregen. Daher steht auch das BABEL-Zitat (derzeit noch) oben rechts in meinem Litblog ; -)
Vielleicht ist es einfach Zufall, dass Sie Drei sich in Ihren Kommentaren ergänzen… und insofern eine glückliche Fügung für dieses Diskussionsthema um den „modernen Roman“.

Bei ALÉA fand ich drei interessante Sätze, die ich meiner Antwort vorweg stelle und der ich dann nachdenkenswerte Gedankengänge, die OTTO und der BÜCHERBLOGGER einbrachten, gegenüberstelle:

„Der moderne Roman muss seine Form bedenken und reflektieren. Er muss eine Auseinandersetzung mit dem Thema „Form“ haben. Das mussten die prä-modernen Romane in dieser Form nicht.“
Als Bücher-Leserin [wie auch als Autorin] stellt mich der „normale“ Roman nicht mehr zufrieden. Der klassische Romanaufbau mit seinen klassischen Themen „Liebe, Hass, Neid, Missgunst, Intrige, Profitgier, Macht, Ohnmacht“ langweilt mich. Im Buchladen blättere ich hinein und lasse sie liegen, die Bücher dieser Art, selbst wenn sie von namhaften Autoren geschrieben sind. Wenn ich durch eine Lesung zum Kauf verleitet, sie dennoch mitnehme, lese ich oftmals nur das erste Drittel, lege sie dann ermüdet weg.
Anders, wenn es interessante, ich nenne es jetzt mal, neue Ansätze (statt „modern“) der Erzählerstimme oder der Erzählsituation gibt, wie sich verschränkende Handlungen oder Puzzleteile, die in den ersten Buchkapiteln gestreut werden und ab der Buchmitte neue (Handlungs)gestalt annehmen. Dann „fresse“ ich mich durch die Seiten, bin sogar enttäuscht, wenn das Buch plötzlich zu Ende ist. Leider kommt das Ende dieser Bücher immer abrupt. Bei solchen Büchern könnte ich statt 250 Seiten auch 500 oder 700 lesen.

Insofern stimme ich dem BÜCHERBLOGGER voll und ganz zu, der sagt:
„Formen werden sich immer ändern und jede wird eine Zeit lang modern sein.“ Und DESHALB bleibe nur die „Erzählerinstanz“ übrig.

Das Faszinierende am „Google Earth“-Text ist für mich daher gerade DIESE Erzählerinstanz, die diese Geschichte erzählt und weniger die Interpretationen und Erklärungen der Juroren. Zumal die Perspektive so neu nicht ist, und mir die „weltgeschichtliche“ Interpretation eines der Juroren zu weit ging. Im Prinzip ist „Google Earth“ die Erzählung aus der alten Perspektive des „camera eye“, die von der Totalen in die Makroaufnahme der Details und zurück, hin und her, zoomt.

Interessant fand ich Ihre Ausführungen zum „Autoren-Inneren-Monolog“, wie Sie, lieber Bücherblogger, „das Bewußtsein des Autors über DEN EINEN (bewußten) Moment (in jeder Sekunde) des Schreibens“ es bezeichnen (wenn ich das so verkürzt wiedergeben darf).
Vielleicht finden Sie dies „an manchen Stellen in Aléas Blog“, weil diese Selbstreflektion des Schreibens beim Blog-Schreiben leichter möglich ist als beim Schreiben eines Buches? (Das ist jedenfalls meine sehr bescheidene Sicht als erst seit kurzem Bloggende auf die Unterschiede (be)im Schreiben) Vielleicht reflektiert man als Blog schreibender Autor den Moment, „die Sekunde des Schreibens“, stärker als wenn man für (s)ein Buch schreibt?

Vielleicht gehört die „philosophische Substanz“, wie OTTO sie, ich möchte schon fast sagen, FORDERT, mit in diesen Kontext gesetzt!? Jedenfalls fand ich diese letzten drei Sätze Ihrer Kommentierung sehr bemerkenswert, sie könnten für mich als weitere These in der Diskussion um den „modernen Roman“ gesetzt werden:
„Keine Geschichte läuft von selbst. Ihr Motor ist die philosophische Substanz. Sie bestimmt auch die Form.“
Daher frage ich mich auch, WAS wird als nächstes kommen? WELCHE Form? WAS ist die „philosophische Substanz“, der sich heute ein Autor, eine Autorin zu stellen hat?
Globalisierung, die Entmenschlichung des Arbeits- und Erwerbslebens, grenzenlose Mobilität, die Schnelllebigkeit der heutigen Welt… Nur einige Stichworte, die in einem nie zuvor gekannten Ausmaß bis in den hintersten Winkel der letzten Privatheit, in Familie und persönliche Beziehungen hinein wirken, sie beeinflussen, sogar über deren Fortbestand entscheiden. Je nachdem, ob ein Erzähler/eine Erzählerin den o.g. Stichworten positiv oder negativ gegenübersteht, wird er durch seine philosophische Weltsicht der Dinge die Geschichte erzählen.
Allerdings, lieber OTTO, hege ich doch gewisse Zweifel, ob sich das Gros der Autoren und Autorinnen des Mainstream so viele philosophische Gedanken über die „philosophische Substanz“ machen, bevor sie einen neuen Roman zu schreiben beginnen. Ob sich jemand hierzu Gedanken macht, wird sowohl mit der Art des Stoffes, mit dem Plot, den jemand im Hinterkopf bewegt, als auch für den Verlag, bei dem er unter Vertrag steht, zu tun haben.
Vielleicht kann sich nur ein Autor, eine Autorin wirklich IHRE Fragen stellen, die noch völlig frei (also ohne feste Verlagsbindungen) ist:
„Was ist die Substanz eines Werkes? Worin besteht sie?“ Was ist „die Art und Weise der Sicht der Erzählerinstanz(en) auf die Welt und ihre Dinge“ und damit „die ihr zugrunde liegende Philosophie“!?

Insofern möchte ich als – nicht ganz (un)bemerkenswertes – Zwischenfazit ziehen:
Der moderne Roman muss seine Form bedenken und reflektieren.
Entscheidend ist jedoch die Erzählerinstanz,
und die Reflexion des Erzählers auf die Weltsicht und ihre Dinge.
Nicht zu vergessen: der Autoren-Innere-Monolog.

Zugleich stellen sich mir daraus jedoch neue Fragen:
Was ist mit der Reflexion des Autors, des Schreibenden, selbst?
Wie beeinflusst die Haltung – oder um es in den Worten OTTO´s zu sagen: also auch die philosophische Sicht - des Autors die des Erzählers? (denn Erzähler und Autor müssen ja nicht identisch sein)
In welchem Verhältnis steht die Erzählerinstanz zum Autoren-Inneren-Monolog?

Zuguterletzt inspirierten Sie, lieber BUECHERBLOGGER, mich durch Ihre nachfolgend zitierte Aussage noch zu einem ganz anderen Aspekt, nämlich der Sicht des Lesers: "Modern ist also der Umbruch im Bewußtsein des Schreibenden.“
Was ist jedoch mit dem Leser? Wann nimmt der Leser den Umbruch wahr? Sofort? Oder eher Zeit verzögert? Gilt etwas als modern, wenn ein Autor/eine Autorin es als „modern“ deklariert? Oder wenn es die Kritiker, die Feuilletonisten tun? Was ist jedoch mit dem Leser? Müsste der Beginn einer neuen Epoche bzw. die Einordnung, ob ein Roman „modern“ ist, nicht auch der Wahrnehmung der Leser überlassen sein?

ODER: HABEN wir nur dann einen „Roman neuer und somit moderner Machart“ vor uns, wenn alle vier – der Autor selbst, sein Erzähler, die Mehrzahl seiner Kritiker wie auch seine Leser – einen Roman als „neu“ empfinden und ihn somit als "modern" definieren?

Damit werfe ich Ihnen nun wieder den Ball zu, vielleicht haben Sie Drei – und gerne natürlich auch andere Blog-Leser und Leserinnen – Lust, ihn wieder aufzunehmen ;-)

Weitere Antworten gebe ich gleich noch in direkten Kommentaren, die sich nicht so gut zu einander in Kontext setzen lassen.

Herzlich
Teresa

Aléa Torik (Gast) - 7. Aug, 08:27

Liebe Teresa,

Liebe Teresa,
ich hatte die Links hinterlegt, aber sie sind nicht gesendet worden. Die beiden genannten Begriffe sind nur spezielle Formen, weil sie aber sehr selten sind, wirken sie natürlich experimentell. Sie sind aber nicht weniger experimentell als eine Unterscheidung von Rahmen und Binnenhandlung.
Dos-a-dos: http://en.wikipedia.org/wiki/Dos-%C3%A0-dos_binding
Mise-en-abyme: http://de.wikipedia.org/wiki/Mise_en_abyme
Natürlich gibt es für viele Erscheinungen auch die entsprechenden Fachbegriffe. Das tut aber alles nichts zur Sachen, weder für den modernen, noch den postmodernen, den strukturalistischen Roman. Wesentlich ist vielmehr, dass die Form in der Modere eine enorme Rolle spielt und dann man im Grunde gar nicht daran vorbeikommt, sich damit auseinanderzusetzen.
Aléa

Vom Feuer in der Literatur und dem Abgrund ins Unendliche

Liebe Teresa,

ich antworte Ihnen auf Ihren Kommentar bei mir hier bei Ihnen zuhause. Zum Kauf der 11
Studienbriefe "Literarische Moderne" kann ich Sie nur beglückwünschen. Dass meine kurze Bemerkung diese Wirkung hatte, passt gut zum "Papierhaus" von Dominguez. Das Niveau des Kollegs fand ich damals so auf Hauptseminarebene, 1994 ist lange her, aber bei weitem nicht alles darin ist veraltet. Dem Zitat aus der Rede Vargas Llosas 1967 zur Verleihung des "Premio Romulo Gallegos"
kann ich natürlich nur zustimmen. Eine Literatur ohne das Feuer der Auflehnung ist keine Literatur.
Antworten möchte ich allerdings heute mit einem Zitat aus der Rede eines anderen Preisträgers dieses Preises von 1999, Sie werden es ahnen, Roberto Bolaño:
"Den Kopf ins Finstere stecken können, ins Leere springen können, das Wissen darum, dass es sich bei der Literatur um etwas Gefährliches handelt. Wandeln am Rande des Abgrunds: auf der einen Seite
die gähnende Tiefe, auf der anderen die lächelnden Gesichter derer, die man liebt, die Bücher, die Freunde, das Essen."

Hier ist sicher nicht der Ort, eine neue Romantheorie zu entwickeln und der Streit um die Vorherrschaft von Inhalt und Form ist obsolet. Aléa hat auch sicher recht, wenn sie meint, das Moderne würde sich auch immer in neuen Formen ausdrücken. Mich lässt jedoch der Begriff "mise en abyme" nicht los. Formal meint dieses "Stellen in den Abgrund" ja die Spiegelung des Kunstwerks in sich selbst bis in die Unendlichkeit. Bekannte Beispiele in der Malerei oder der Fotografie gibt es ja: Jan van Eyck "Arnolfini-Hochzeit" oder ich erinnere mich an das Foto des Plattencovers von Pink Floyds "Ummagumma". Was den modernen Roman angeht spüre ich diesen Abgrund aber gern im Autor selbst oder in seiner Sprache, die den Leser auch inhaltlich einen Abgrund wahrnehmen lässt, weil dieser in dem ist, was das Fiktive immer beschreibt: den unendlichen Abgrund unserer Welt und den
in uns selbst.
Durch wilde-leser.de und durch den "Argentinischen Juli" beschäftige ich mich zur Zeit mit argentinischer und lateinamerikanischer Literatur. Ihrem Hinweis auf die Ausstellung im Museum der
Literarischen Moderne in Marbach bin ich daher sofort nachgegangen. Das Städtchen, in dem ich noch nie war, muss wohl eine literarische Atmosspäre wie Weimar haben. Falls sie dort wohnen oder beruflich tätig sind, ich meine mich dunkel an Beschreibungen bei Aléa zu erinnern, sind sie zu beneiden. Zu Bolaño will ich Sie nicht bekehren, bei Aléa ist mir das schon nicht gelungen, aber sie hat ihre guten Begründungen. Die Literatur ist so vielfältig und bemerkenswert finde ich eher, dass so unterschiedliche Menschen durch fast zufälliges Blog-Zapping eine gedankliche Beziehung zueinander finden. Als nächstes lese ich den "Lumpenroman", die bisherigen drei Bände der Onetti-Werkausgabe stehen ungelesen hinter mir. Um mich herum auf dem Fussboden liegen die 11 Studienbriefe von 1993, in denen ich nostalgisch herumblättere. Vielleicht schreiben Sie mir
einmal, Email oder Blog etwas über Ihre Leseerfahrung, würde mich freuen. Genauso wie mich Ihr Kommentar gefreut hat, er kam zum richtigen Zeitpunkt.

Herzliche Grüsse nach Marbach (?) und viel Freude bei Ihrem Blog

Dietmar

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